Herne. . An der überraschenden Wiedereinführung von G9 scheiden sich in Herne die Geister. Was Schulleiter, Politiker und Schüler zu der Reform sagen.

  • Abkehr vom Turbo-Abi und Rückkehr zu G9 stößt an Schulen und in der Politik auf Lob und Kritik
  • Leiter von Gymnasien bedauern die Entscheidung von Schwarz-Gelb in Düsseldorf; Politik ist gespalten
  • Mitglieder des Kinder- und Jugendparlaments freuen sich dagegen über die Weichenstellung

Schuldezernentin Gudrun Thierhoff ist überhaupt nicht erbaut, von den Neuigkeiten aus Düsseldorf. „Unsere Schulen haben sich alle für G8 ausgesprochen. Will man das jetzt ignorieren?“ fragt sie. Es habe in Herne keinerlei Stimmung gegen G8 gegeben, die Gymnasien seien alle auf einem guten Weg. „Ich finde es außerordentlich bedauerlich, dass die Schulen nun wieder in Unsicherheit gestürzt werden.“

Das Gymnasium Eickel: Die Schulleiterin begrüßt grundsätzlich die Rückkehr zu G9, befürchtet aber auch Probleme.
Das Gymnasium Eickel: Die Schulleiterin begrüßt grundsätzlich die Rückkehr zu G9, befürchtet aber auch Probleme. © Hans Blossey

Magdalene van Merwyk begrüßt die Rückkehr zu G9, weil sich die Sekundarstufe I dadurch wieder verlängere. Die verkürzte Sek I sei für die Kinder zu stressig, sagt die Schulleiterin des Gymnasiums Eickel. Dass sie nicht rundum zufrieden ist mit dem künftigen Schulmodell, liegt an dem Umstand, dass Schulen auch G8 anbieten können sollten. Entscheide sich ein Herner Gymnasium dafür, könnte vor Ort eine Art „Elitegymnasium“ entstehen – das will sie nicht.

Haranni-Schulleiterin Nowak ist verblüfft

„Bedauerlich“ findet die Leiterin des Haranni-Gymnasiums, Nicole Nowak, die allgemeine Rückkehr zum Abitur nach neun Schuljahren. „Ich bin verblüfft, dass alles wieder zurückgedreht wird“, kritisiert sie. „Ich glaube, dass da Meinungsmache betrieben wurde, 500 000 Eltern waren sehr laut, aber was ist mit den anderen Millionen?“

Nicole Nowak befürchtet Schwierigkeiten bei der Umsetzung von G9: „Es fehlen Räumlichkeiten, Lehrer und finanzielle Mittel.“ Sie hofft, dass sich die Gymnasien in Herne einigen werden – und zwar darauf, dass entweder bei allen G8 weiterläuft oder alle gemeinsam zu G9 zurückkehren.

Auf eine einheitliche Linie setzt auch Volker Gößling. „Es wäre schlecht, wenn jede Schule etwas anderes machen würde“, sagt der Leiter des Pestalozzi-Gymnasiums. Sollte es zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen, sehe er die Kooperation der Gymnasien in der Oberstufe nicht als gefährdet: „Wir kooperieren ja auch mit Gesamtschulen, wo das Abitur erst nach neun Jahren gemacht wird. Das funktioniert sehr gut.“

OHG-Schulleiter bedauert Rückkehr zu G9

Egon Steinkamp ist Leiter des Otto-Hahn-Gymnasiums (OHG) und Sprecher der Herner Gymnasien.
Egon Steinkamp ist Leiter des Otto-Hahn-Gymnasiums (OHG) und Sprecher der Herner Gymnasien. © Rainer Raffalski

Egon Steinkamp, Leiter des Otto-Hahn-Gymnasiums, gibt offen zu, dass er die Entscheidung für G9 als Regelgymnasium bedauert, zumal es keine einzige tragfähige Untersuchung gebe, dass G8 schlechter als G9 sei. „Das ist eine Entscheidung auf emotionaler Ebene, jenseits der Fakten“, kritisiert er. Und eine Entscheidung, die den Schulen und Kommunen noch Probleme bereiten werde: durch Inklusions- und Seiteneinsteigerklassen fehlten Räume, es müssten zusätzliche Lehrer kommen, Lehrpläne und -bücher müssten neu geschrieben werden.“

Positiv sieht er, dass „handwerkliche Fehler“ beseitigt werden sollen: „Wir hätten über alle Schulformen wieder einen mittleren Schulabschluss nach Klasse 10. Und die zweite Fremdsprache wieder mit der 7. Klasse einzuführen, ist auch richtig“, so der Sprecher der Herner Gymnasien.

KiJuPa-Mitglieder begrüßen die Reform

Und was sagen Herner Schüler? „Ich finde die Rückkehr zu G9 gut und richtig“, sagt Lara Köhler (18), die gerade ihr Abitur am Gymnasium Wanne gemacht hat. G8 sei sehr stressig gewesen, sie sei bisweilen bis 18 Uhr an der Schule gewesen. Vor drei Jahren habe sie Japanisch lernen wollen, dies aber aufgrund der großen schulischen Belastung aufgeben müssen, ebenso wie Nachhilfeunterricht für jüngere Schüler zur Aufbesserung des Taschengelds, sagt das Mitglied des Kinder- und Jugendparlaments (KiJuPa).

Im September 2016 diskutierte das Kinder- und Jugendparlament mit NRW-Landtagspräsidentin Carina Gödecke über das Turbo Abi - eine denkwürdige Veranstaltung, die im ganzen Land hohe Wellen schlug.
Im September 2016 diskutierte das Kinder- und Jugendparlament mit NRW-Landtagspräsidentin Carina Gödecke über das Turbo Abi - eine denkwürdige Veranstaltung, die im ganzen Land hohe Wellen schlug. © Ralph Bodemer

„Ich freue mich über die Entscheidung“, sagt auch Köhlers KiJuPa-Mitstreiter Semih Sarikaya (17), der 2018 am Haranni-Gymnasium sein Abitur machen wird. G 9 sei nicht nur entspannter, sondern es biete auch die Möglichkeit, in dem zusätzlichen Jahr persönliche Erfahrungen zu sammeln, die im späteren Berufsleben von Vorteil seien. Auch KiJuPa-Geschäftsführer Armin Kurpanik sieht hier einen entscheidenden Vorteil des G9-Modells: „Die Schüler haben mehr Zeit, sich zu entwickeln und zu verwirklichen.“

Dass die Wiedereinführung von G9 an Gymnasien Gesamtschulen schaden könnte, glaubt Elis Balinan (19), Schülerin der Erich-Fried-Gesamtschule (und KiJuPa-Mitglied) nicht. Auch sie begrüßt die sich abzeichnenden Reform: „G8 hat den Stress bei Schülern vergrößert.“

Wie berichtet, hat das Herner KiJuPa 2016 in der Debatte über eine Schulzeitverkürzung landesweit Schlagzeilen gemacht: In einer Diskussion mit dem Herner Gremium hatte Landtagspräsidentin Carina Gödecke erklärt, dass sich Erwachsene mit der Einführung von G8 an Schülern versündigt hätten. Die breite Mehrheit im KiJuPa hatte in der Diskussion mit Gödecke über negative Folgen des Turbo-Abis geklagt.

Und das sagen Herner Schulpolitiker

Thomas Spengler, schulpolitischer Sprecher der SPD-Ratsfraktion, nennt die Pläne von Schwarz-Gelb „wischi-waschi“ und „übers Knie gebrochen“. Die künftige Koalition wälze die Verantwortung für G9 oder G8 auf einzelne Schulen ab. Entschieden Schulen vor Ort für G8, so seine Befürchtung, könnten Schüler eines G9-Gymnasiums schnell als „Schüler zweiter Klasse“ abgestempelt werden.

„Für die Gesamtschulen, die bislang mit G9 punkten konnten, ist die Rückkehr zu neun Schuljahren auf jeden Fall ein Nachteil“, sagt der Herner FDP-Landtagsabgeordnete Thomas Nückel. Die Gymnasien hätten zwar eine „gewisse Freiheit“, die meisten würden aber wohl zu G 9 zurückkehren. G 8 habe an vielen Schulen erfolgreich funktioniert, jetzt beuge sich die Politik aber dem Elternwillen.

Zwei Herzen in Musbachs Brust

Jörg Höhfeld, schulpolitischer Sprecher der Herner Grünen-Fraktion, befürchtet, dass die Rückkehr zu G9 zu neuer Unruhe an den betroffenen Gymnasien führen kann. Höhfeld bezweifelt zudem, dass auf die Schnelle ausreichend neue Lehrer gefunden werden. „Gut finde ich, dass die Mittelstufe jetzt wieder bis zur Klasse zehn geht, gewünscht hätte ich mir eine flexible Oberstufe mit wahlweise zwei oder drei Jahren“, sagt der Grünen-Politiker.

In der Brust von CDU-Ratsherr Michael Musbach schlagen nach der Grundsatzentscheidung für G9 zwei Herzen. Einerseits habe er dem Turbo-Abi grundsätzlich eher negativ gegenüber gestanden, betont der schulpolitische Sprecher der CDU-Ratsfraktion. Andererseits stünden die Schulen nun organisatorisch wieder vor „großen Herausforderungen“. Denn: Für mehrere Jahre würden nun wieder zwei Systeme - G8 und G9 - parallel an Gymnasien laufen.

Piraten: Entscheidung war richtig und überfällig

„Die Entscheidung ist gut, richtig und überfällig“, sagt Andreas Prennig, Ratsfraktions-Chef von Piraten-AL. Wie berichtet, hatten die Piraten im Vorfeld der Landtagswahl Unterschriften für G9 gesammelt. Wenn es die Kehrtwende von CDU und FDP nicht gegeben hätte, wäre G8 durch ein Volksbegehren gekippt worden, so Prennig.

Als „wichtigen Beitrag zur Wahlfreiheit“ bewertet die Schüler Union (SU) die Wiedereinführung von G9. Die nun an die Schulen gestellten Anforderungen seien schwierig, „aber zu schaffen“, so SU-Chef Jascha Hoppe.

Stellungnahme der Schüler Union zu G9

Jascha Hoppe, Vorsitzender der Schüler Union in Herne, nahm ausführlich Stellung.
Jascha Hoppe, Vorsitzender der Schüler Union in Herne, nahm ausführlich Stellung. © Schüler Union

Die Mitteilung von Jascha Hoppe von der Herner Schüler Union im Wortlaut: „Die Schüler Union Herne befürwortet die Bestrebungen von CDU und FDP mehrheitlich. Jedoch nicht ohne gewisse Zusätze und Anmerkungen. Uns muss klar sein, dass dieses flächendeckende Einführen von G9 eine erneute Umstellung für die Schulen bedeutet und diese erneut vor eine schwere aber dennoch zu schaffende Aufgabe stellt. Denn auch die Schüler Union NRW sieht einen erneuten Wechsel als Herausforderung an.

Wir müssen uns vor Augen halten, dass ein höherer Arbeitsaufwand nicht mehr Arbeit für die Lehrkräfte bedeuten darf. Mehr Arbeitsaufwand muss bedeuten, dass wir auch mehr Lehrer einstellen. Und das Thema der unbesetzten Lehrerstellen war bereits von der letzten Landesregierung und vor allem von der ehemaligen Schulministerin Sylvia Löhrmann nicht gelöst worden. Die CDU muss nun ihren Wählern und als allererstes ihren Schülern im Land beweisen, dass die CDU die richtige Entscheidung für unser Land war und daher drastisch gegen unbesetzte Lehrerstellen kämpfen.

Wir müssen Anreize setzen. Unser Ziel muss nicht sein den Lehrer als Traumberuf auszurufen aber wenigstens das Image der Lehrer wieder zu verbessern ist durchaus machbar. Die weiteren Bestrebungen der zukünftigen Regierung in NRW, das Abi nach 8Jahren vereinzelt beizubehalten kommt, auch der Schüler Union entgegen, welche in den letzten Monaten vermehrt eine Wahlfreiheit zwischen G8 und G9 gefordert hatte.

Einige Schüler blieben durch G8 auf der Strecke

Die Zukunft unserer Schulpolitik in NRW liegt nun in den Händen von CDU und FDP. Doch wir sind der Meinung, dass sie in eben diesen Händen sicher liegt. Es wird viel Anstrengungen und Zeit kosten zum Beispiel die Lehrpläne umzustellen doch eines ist sicher. Die Schüler, die angehenden Abiturienten werden es danken. Viele, die es gar nicht wollten, mussten unter der Last von G8 versuchen ihr Abi zu bestehen. Dabei blieben leider auch einige dieser Schüler auf der Strecke.

Die alte Landesregierung hat fahrlässig mit der Zukunft der Schüler gespielt und am 14.Mai ihre Quittung dafür bekommen. Denen, die dennoch ein Abitur nach 8 Jahren anstreben, wollen wir trotzdem die Möglichkeit geben, da die Freiheit der Entscheidung in unserer Demokratie ein hohes Gut ist und durch eben solche Möglichkeiten gestärkt wird.“