Vor der Landtagswahl: Sechs Herner Kandidaten im Härtetest
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Herne. . Zwölf Tage vor der Landtagswahl haben VHS, WAZ und Radio Herne mit Herner Kandidaten diskutiert. Eine Ministerin erhielt sogar ein „Zeugnis“.
Sechs Herner Landtagskandidaten diskutierten zwölf Tage vor der Landtagswahl in Flottmann-Hallen
Über Themen wie Bildung, Innere Sicherheit und Verkehr wurde kontrovers diskutiert
Rund 120 Menschen folgten Einladung von Volkshochschule, WAZ und Radio Herne
Sechs Landtagskandidaten, 120 Zuschauer und ein Versprechen: „Wir werden die Kandidaten grillen“, sagt Stefan Erdmann (Radio Herne) am Dienstagabend zu Beginn der VHS-Diskussion in den Flottmann-Hallen. Ganz so schlimm wird es in den folgenden 120 Minuten für die am 14. Mai im Wahlkreis Herne I antretenden Politiker zwar nicht, informativ, kurzweilig und professionell in Szene gesetzt ist der Schlagabtausch zu den Blöcken Innere Sicherheit, Bildung, Verkehr und Wirtschaft sehr wohl.
Innere Sicherheit
Mit einem Zitat aus dem Wahlprogramm ihrer Partei wird jeder Kandidat von den Moderatoren - Erdmann und WAZ-Redaktionsleiter Michael Muscheid - konfrontiert. Die Positionen driften weit auseinander. „Wir leben noch nicht in einem Überwachungsstaat, sind aber auf dem Weg dahin“, sagt Christopher Krogull (Linke). Grundrechte müssten geschützt werden. Es könne nicht angehen, dass Bürger auf Schritt und Tritt überwacht würden. Das sieht Michael Eilebrecht (Piraten) ähnlich. Auch im ÖPNV dürfe die Dauerüberwachung nicht zum Standard werden, sagt der 53-Jährige. Er schlägt vor, Kameras sollten nur an „kritischen Punkten“ eingesetzt werden; außerdem müsse das Personal im ÖPNV aufgestockt werden.
„Die Polizei braucht endlich mehr Personal“, so eine zentrale Botschaft des FDP-Landtagsabgeordneten Thomas Nückel. Raoul Roßbach (Grüne) fordert derweil, „Hass und Gewalt an den Wurzeln zu bekämpfen“. Mehr Polizei und Sicherheitskräfte seien zwar nötig, doch Prävention sei ebenso wichtig.
Sogenannte „No-Go-Areas“ rückt CDU-Kandidat Sven Rickert (42) in den Fokus: „Diese sind Realität.“ Das Land habe hier „zuviel schleifen lassen“. Den Hochhausblock an der Emscherstraße in Wanne würde er zwar nicht als „No-Go-Area“ bezeichnen, doch es sei richtig gewesen, dass die CDU hier Alarm geschlagen habe. „Für zwei Nächte war die Emscherstraße sehr wohl eine No-Go-Area“, sagt Nückel und verweist auf die Vertreibung der jesidischen Bewohner. Für Eilebrecht ist die Emscherstraße alles andere als ein Brennpunkt. Er berichtet aber, dass ältere Frauen abends Angst hätten, in Wanne-Mitte auf die Straße zu gehen.
Wie Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im fast zeitgleich stattfindenden WDR-Duell sieht sich auch Alexander Vogt (SPD) mit der Frage konfrontiert, warum NRW nicht auf das Instrument „Schleierfahndung“ setze. „Wir brauchen einen starken Staat, müssen aber abwägen zwischen Freiheitsrechten und einer totalen Überwachung“, antwortet der 38-jährige Landtagsabgeordnete.
Nückel und Vogt spielen dann noch munter das Schwarzer-Peter-Spiel, sprich: sie streiten sich über die Frage, ob und warum die schwarz-gelbe Regierung von 2005 bis 2010 in NRW nicht mehr Polizisten eingestellt habe.
Bildung
Die sechs Kandidaten sollen NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) ein Zeugnis schreiben – und die Frage beantworten: „Wird die kleine Sylvia in die nächste Regierung versetzt?“ Für Löhrmanns Parteifreund Roßbach ist das keine Frage: Der 30-Jährige spricht von einer „ordentlichen Bilanz“ gibt der Ministerin in den Fächern G 8, Integration und Ausstattung von Schulen jeweils eine glatte 2. Bei der Inklusion sieht er noch etwas mehr Luft nach oben (3+) und räumt auch grundsätzlich ein: „Wir sind noch nicht da angekommen, wo wir hinwollen.“ SPD-Mann Vogt gibt fast identische Noten und versetzt Löhrmann. Er verweist zudem auf das von Rot-Grün aufgelegte Schulinvestitionsprogramm „Gute Schule 2020“.
Bei den Kandidaten von CDU, FDP und Piraten fällt „die kleine Sylvia“ dagegen durch: „Nicht versetzt“, lautete das strenge Urteil; die Noten schwanken in den vier Fächern zwischen Ausreichend und Ungenügend.
Von „miserablen Voraussetzungen“ in Schulen spricht Rickert und nennt unter anderem den Unterrichtsausfall. Für die Inklusion müsse viel mehr Geld in die Hand genommen werden. Und bei der Integration setze das Land zu sehr auf grüne „Multi-Kulti-Ideale“. Und die Gegenfinanzierung? Bundesmittel versickerten in NRW, so Rickert. Und: Das Land müsse mehr Geld erwirtschaften, so die Rechnung des CDU-Mannes.
Nückel (54) geht noch härter mit der rot-grünen Bildungspolitik ins Gericht. Beim Fach Inklusion gibt er sogar eine glatte 6 und spricht von „katastrophalen Zuständen“. Bei der Integration bemühe sich Löhrmann zwar, aber es laufe vieles falsch. Und dass er bei der Ausstattung von Schulen eine 5 statt eine 6 gibt, begründet der Liberale so: „Wir haben in den Schulen ja noch Dächer.“ Aus dem Hut bzw. aus der Tasche zieht Nückel einen Schrieb des NRW-Finanzministers Borjans (SPD), nach dem dieser 2018/19 rund 7000 Lehrerstellen streichen wolle. Ist das so? Das lässt sich an diesem Abend nicht klären.
„Nicht versetzt“ lautet auch das Urteil von Pirat Eilebrecht. „Bei G 8 ist alles falsch gelaufen, was falsch laufen kann.“ Er beklagt zudem, dass die Kommune bei der Finanzierung der Schulausstattung allein gelassen werde und fordert WLAN und Lernsoftware für Schulen.
Auf Vorzüge des Abiturs in Bayern verweist der gebürtige Oberfranke Krogull (24). Das Lernen sei „dort näher am Leben“, sagt der Linke. Er gibt eine 5 für Löhrmanns Bilanz beim Turbo-Abi und immerhin jeweils eine 4 für Integration, Inklusion und Ausstattung. Aber: „Die Anstrengungen reichen nicht.“
Verkehr
Moderator Erdmann heizt die Diskussion mit einer dramatischen Aussage an: Dem Land drohe der Verkehrsinfarkt. Und: Ein Drittel aller bundesweit im Stau stehenden Menschen entfalle auf NRW. Vogt relativiert die Zahlen und verweist auf die Bevölkerungszahl und vor allem -dichte an Rhein und Ruhr. Straßen, Wasser und Schiene müssten aber ausgebaut werden: „Das machen wir auch!“
Einer Privatisierung von Autobahnen - eigentlich ein Bundesthema - erteilt Vogt wie auch Linke-Kandidat Krogull eine klare Absage. Rickert fordert mehr öffentliche Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur und schließt hier eine Kooperation mit Privaten zumindest nicht aus. Das ruft Roßbach auf den Plan: Privatisierungen kämen den Steuerzahlern teuer zu stehen, warnt der Grüne.
Nückel zählt SPD-Bauminister Groschek an („ein Dampfplauderer“) und kritisiert wie Rickert, dass andere Länder bei der Planung von Straßenbauprojekten schneller und besser seien als NRW. Vogt bestreitet dies und erinnert daran, dass vor zehn Jahren unter Schwarz-Gelb 100 Ingenieur-Stellen beim Landesbetrieb Straßen NRW abgebaut worden seien. Der FDP-Kandidat sieht auch Handlungsbedarf beim ÖPNV und insbesondere beim „Sammelsurium“ der acht Verkehrsverbünde.
Roßbach wirft sich für eine Bekämpfung des „Tarifdschungels“ in die Bresche. Der ÖPNV würde attraktiverer durch ein in ganz NRW gültiges Ticket für zwei Euro pro Tag. Und: Beim Mobilität-Mix dürfe neben Schiene und Straße auch das Thema Radweg nicht vernachlässigt werden.
Eilebrecht fordert eine radikale Reform und unter anderem die Einführung eines fahrscheinlosen ÖPNV. Dadurch würde auch die Umwelt entlastet, so der Pirat. Den Nahverkehr weiterhin in Staatshand sehen möchte Krogull: „Mobilität ist ein menschliches Grundbedürfnis.“
Wirtschaft
Ist NRW das „wirtschaftliche Herzstück“ Deutschlands, wie es die SPD postuliert? Oder hat das Land seine wirtschaftliche Spitzenstellung unter Rot-Grün längst eingebüßt, wie die CDU behauptet? Konfrontiert mit diesen Kernaussagen aus den Wahlprogramme scheiden sich auch in den Flottmann-Hallen die Geister.
Nückel verweist auf das „unterdurchschnittliche Wachstum“. Und: NRW habe mit Duin (SPD) keinen Wirtschaftsminister, sondern einen „Grüßaugust“. Dem setze Umweltminister Remmel (Grüne) seine „Wirtschaftsverhinderungspolitik“ entgegen. Während es Eilebrecht grundsätzlich eher mit der CDU hält („die Wirtschaft ist nicht so gut aufgestellt“), sieht Krogull die Wahrheit „eher in der Mitte“. Die öffentliche Hand müsse mehr Aufträge vergeben und faire Arbeitsbedingungen schaffen, um die Wirtschaft nach vorne zu bringen, sagt er.
Von ordentlichen Wachstumszahlen sprechen Vogt und Roßbach. Der Grüne betont die Verdienste in der Umweltwirtschaft. Und: „In der Energiewirtschaft sind leider zu wenig grüne Ideen umgesetzt worden.“ Man brauche strenge Regeln, um eine moderne Wirtschaft aufzubauen. Während Roßbach einen Anstieg bei Unternehmensgründungen konstatiert, beklagt Nückel, dass es in NRW und insbesondere in der Metropole Ruhr zu wenig Start-ups gebe.
Sozialdemokrat Vogt verweist darauf, dass NRW im Jahr 2016 beim Wachstum im Ländervergleich auf Platz 6 gestanden habe. Beim Breitbandausbau sei man sogar ganz weit vorne. Aufgrund des Strukturwandels sei die Ausgangssituation in NRW schwierig, doch: „Es geht nach oben.“
Ein Quietsche-Entchen für „Dr. Klöbner“
Die vier Themenblöcke standen am Dienstagabend im Mittelpunkt der VHS-Diskussion in den Flottmann-Hallen, waren aber längst nicht der einzige Programmpunkt.
In der Begrüßungsrunde offenbarten die Politiker nicht nur Politisches, sondern auch Privates. So erhielt Sven Rickert (CDU) von den Moderatoren eine Star Trek-Tasse – eine Anspielung auf dessen Faible für die Sternen-Saga. Das gelbe Quietsche-Entchen für Thomas Nückel (FDP) erinnerte an die Theatervergangenheit des Liberalen: Er spielte einst am Kleinen Theater im Loriot-Sketch „Herren im Bad“ die Rolle des Dr. Klöbner.
Für Achterbahn-Fan Raoul Roßbach (Grüne) wurde ein rasanter Film aus dem Europapark eingespielt. Medienmann Alexander Vogt (SPD) erhielt eine Herner WAZ-Ausgabe und eine Radio-Herne-Tasse. Michael Eilebrecht (Piraten) wurde mit seiner Leidenschaft für die xBox und insbesondere das Spiel Fifa 15 konfrontiert. Und die (gebrauchten) Laufschuhe von Moderator Stefan Erdmann entlockten auch Marathon-Mann Christopher Krogull (Linke) Privates – bis hin zur Antwort auf die Frage, warum er auf Krücken in die Flottmann-Hallen kam: Er hatte sich einen Tag zuvor beim Lauftraining, konkret: beim Gang in die Umkleidekabine verletzt.
Auch das Publikum kam zu Wort. Vor allem Parteimitglieder meldeten sich zu Wort und warfen Themen und Fragen zum Beispiel über Giftmüll unter Tage, soziale Brennpunkte und Sanktionen gegen Arbeitslose in die Runde. Fast in Rage redete sich der parteilose Bürger Markus Grütering. Der gebürtige Herner, der nach Jahrzehnten mit Familie zurückgekehrt ist, ging hart mit der Entwicklung in seiner Heimat ins Gericht. Früher sei Herne „eine schöne Stadt mit hässlichen Ecken“ gewesen, heute sei es eine „hässliche Stadt mit schönen Ecken“. Er appellierte an die Politik, den „Arsch hoch zu kriegen“.
Fantasie war dann in der Schlussrunde gefragt: Die Kandidaten sollten aus ihrer Runde einen Innenminister „küren“. Das Ministeramt „ging“ schließlich an SPD-Mann Vogt, der von Roßbach und Krogull sowie am Ende auch von sich selbst benannt wurde.
Ein Stück weit präsent war an diesem Abend auch der siebe Herner Landtagskandidat, Peter Weispfenning (MLPD). Aus Protest gegen dessen Nicht-Einladung hatten Aktivisten am Eingang Wahlkampfmaterial des marxistisch-leninistischen Politikers verteilt. Hintergrund: Die VHS lädt traditionell nur Kandidaten ein, deren Partei zurzeit im Landtag vertreten ist. Das ist - dank eines Überläufers der Piraten - diesmal auch bei der Linken der Fall.
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