Herne. . Timon Radicke, der neue CDU-Chef in Herne, will die Union neu aufstellen. Im WAZ-Interview erläutert er seine Pläne.

Timon Radicke ist am vergangenen Sonntag zum CDU-Kreisverbandsvorsitzenden in Herne gewählt worden. Beim Besuch in der WAZ-Redaktion sprachen die WAZ-Redakteure Lars-Oliver Christoph und Michael Muscheid mit dem 31-Jährigen.

Wie haben Sie Ihre Wahl zum CDU-Vorsitzenden gefeiert?

Radicke: Ich war erfreut und erleichtert zugleich. Noch am Abend nach meiner Wahl war ich mit Freunden, Bekannten und Parteifreunden in einer Cocktailbar. Angestoßen habe ich dort mit einer „Tante Inge“. Was drin war in dem Cocktail, weiß ich nicht, aber er sah gut aus.

Ihr Vorgänger Markus Schlüter hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er Ihre Wahl für verfrüht hält. Was entgegnen Sie ihm?

Vorbehalte habe ich angesichts meines Alters in der Partei vor der Wahl durchaus gehört. Ich habe mich natürlich selbst gefragt: Bin ich schon soweit? Meine Antwort: Was der CDU in Herne fehlt, sind Dynamik und Flexibilität – und da kann es an der Parteispitze eigentlich nicht jung genug sein.

Timon Radicke (l.) mit seinem Vorgänger im Amt des CDU-Kreisvorsitzenden Markus Schlüter.
Timon Radicke (l.) mit seinem Vorgänger im Amt des CDU-Kreisvorsitzenden Markus Schlüter. © Rainer Raffalski

Markus Schlüter hat in seiner Abschiedsrede auch deutlich Kritik am Zustand der CDU Herne geübt. Hat er Recht?

Nach all den Jahren seines politischen Wirkens hat er aus meiner Sicht durchaus das gute Recht, klar zu sagen, was nicht passt. So mancher in der CDU mag das anders sehen. Ich meine: Eine Partei muss kritikfähig sein, auch in einer offenen Rede.

Wir wollten eigentlich wissen, ob er mit seiner Kritik am Zustand der CDU Recht hat. Stichwort: Ämterhäufung.

Da hat er auch Recht. Ein Amt bedeutet Verantwortung und viel Engagement für ein Thema. Wenn ich etwa Vorsitzender der Jungen Union bin, dann vertrete ich die Interessen der jungen Menschen in der CDU. Als Vorsitzender der Kommunalpolitischen Vereinigung in der CDU ist es wiederum meine Aufgabe, den Mitgliedern durch Fort- und Weiterbildung das Handwerkszeug an die Hand zu geben, das sie für ihre Arbeit in den politischen Gremien brauchen. Jeder Vorsitz bedeutet Verpflichtungen. Da reicht es nicht, auf dem Podium zu stehen und zu sagen: Ich bin Vorsitzender von X, Y und Z. Mir ist lieber, dass einer nur ein Amt bekleidet als viele Ämter halbherzig. Deshalb habe ich im Vorfeld meiner Wahl auch den Vorsitz des Stadtbezirks Herne-Mitte abgegeben und mich aus dem Vorstand zurückgezogen.

Hat die Ämterhäufung in der CDU auch etwas damit zu tun, dass es zu wenig Schultern gibt, auf die man die Arbeit verteilen könnte?

Das ist mit Sicherheit ein Grund. Es ist ja kein Geheimnis, dass die Personaldecke in der CDU nicht die dickste ist. Auf der anderen Seite sind Ämter aber auch eine Chance, neue und junge Mitglieder einzubinden. Viele brauchen eine Verantwortung.

Die prominenteste Ämterhäufung fand sich ja ausgerechnet beim Kritiker Markus Schlüter selbst – als Fraktions- und Parteivorsitzender. War es glücklich, dass beides in einer Hand lag?

Ich habe großen Respekt vor dem, was Markus Schlüter in der CDU, aber auch in dieser Stadt leistet und geleistet hat. Aber: In der Politik sollte es so sein, dass die Partei die Marschroute vorgibt, und dann gehen die Themen in die Fraktion, also in die Gremien, auch ein Kooperationspartner ist möglicherweise beteiligt. Am Ende steht ein Konsens. Das Problem: Wenn man Partei- und Fraktionsvorsitzender ist, dann besteht die Gefahr, dass man nicht die Marschroute vorgibt, sondern schon den Konsens im Kopf hat. Damit verbaut man sich möglicherweise Chancen. Es braucht also eine Trennung der Ämter, dann hat man auch eine Trennschärfe.

Vor der Wahl haben Sie gesagt, dass Sie keine Kurzzeitlösung seien. Wie viele Jahre wollen Sie denn CDU-Chef bleiben?

Da antworte ich mal ganz diplomatisch: So viele, wie ich brauche, um meine Vorhaben durchzusetzen.

Die CDU ist auch die Partei der Autofahrer, sagt CDU-Chef Radicke im Interview mit der WAZ. Und die des Mittelstandes.
Die CDU ist auch die Partei der Autofahrer, sagt CDU-Chef Radicke im Interview mit der WAZ. Und die des Mittelstandes. © Ralph Bodemer

Was wollen Sie denn anpacken?

Ich sehe Handlungsbedarf auf vielen Ebenen. Am Wichtigsten ist unser kommunalpolitisches Programm. Hier müssen wir komplett umdenken – sowohl inhaltlich als auch formell. Inhaltlich brauchen wir klare und unmissverständliche Positionen, die zeigen, wofür wir in dieser Stadt stehen.

Zum Beispiel?

Die CDU ist auch die Partei der Autofahrer. Wir sind also diejenigen, die sich für die einsetzen, die auf ihr Kraftfahrzeug angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen. Oder: Wir sind die Partei für den Mittelstand, kümmern uns also für kleine und mittlere Unternehmen. Das ist die Trennschärfe, die Profilschärfung, die wir durchführen müssen. So sieht auch der Bürger, dass da kein Einheitsbrei in der Politik ist.

Es fällt auf: Die SPD ist sehr rege, was Bürger-Veranstaltungen angeht. Hat die CDU da Nachholbedarf?

Es stimmt, dass die SPD viele Bürger-Veranstaltungen macht, und das ist gut so. Wichtig ist aber: Die SPD nimmt uns keine Themen weg, sondern wir müssen sie selber ausspielen – kompetent und zügig. Und wir müssen zeigen, wo nötig, dass unsere Sichtweisen andere sind. Nehmen wir das Beispiel Neue Höfe Herne, also der Umbau des Hertie-Hauses. Da macht die SPD eine Bürgerveranstaltung, hängt ein paar Plakate auf, und die Bürger glauben, die SPD hat die Neuen Höfe nach Herne geholt. Das ist die Konsequenz, wenn wir nicht aktiv werden.

Sie wollen sich auch formell neu aufstellen. Sind damit auch die sozialen Netzwerke gemeint?

Ja. Mein Ziel ist es, im Kreisverband einen Social-Media-Beauftragten zu benennen, der dafür die Fähigkeiten, aber auch die Kreativität besitzt. Unser Kreisverband muss stärker auf Facebook, aber auch auf Instagram und auf Twitter vertreten sein. Außerdem müssen Bilder und vor allem auch Videos eine größere Rolle spielen. Und nicht zuletzt: Auch die Öffentlichkeitsarbeit muss besser werden.

Hilft ein schärferer Fokus auf die neuen Medien auch dabei, der Überalterung der CDU Herne entgegen zu wirken?

Ja. Wir dürfen nicht darauf hoffen, dass etwa durch eine außenpolitischen Entwicklung auf einmal viele Menschen in die CDU Herne eintreten. Wir müssen uns also fragen, wen wir haben wollen in unserer Partei. Im Idealfall sind das junge Leute, die sich für unsere Politik interessieren, also für konservative Politik.

Das ist das Stichwort: Ihnen wird nachgesagt, sie seien konservativ. Was verbinden Sie mit diesem Begriff?

Ich verbinde mit dem Begriff, dass man nicht auf Biegen und Brechen etwas Neues macht, sondern an bewährter Politik, an bewährten Strukturen festhält und sich trotzdem Neuem öffnet. Konkret: Konservatismus heißt, dass das Individuum in den Fokus rückt, es ist verantwortlich für sein Vorankommen, aber auch für sein Scheitern. Dagegen steht die Vorstellung, dass der Staat dem Individuum einen Lebensentwurf vorgibt, was viele Sozialdemokraten und Linke wünschen.

Welche Mandate streben Sie in der CDU an?

Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, welche Mandate ich irgendwann mal haben möchte. In dem Moment, in dem man sich ein Mandat als Ziel setzt, ist man nicht mehr in der Lage, die Politik zu machen, die man für richtig hält – weil man dann immer auf die Mandate schaut, die man gerne hätte. Ich will etwas bewegen, und wenn dafür ein Mandat die beste Möglichkeit ist – ob in Herne, Düsseldorf, Berlin oder Brüssel – dann wäre das eine Überlegung wert.

Schauen wir auf den Rat. Wie sehen Sie in der rot-schwarzen Ratskooperation die bisherige Rolle der CDU?

Bislang sehr positiv. Ich bin natürlich nicht in der Rolle von Markus Schlüter, der als Fraktionschef die Ratskooperation als 100-prozentigen Erfolg feiert. Es gibt da Punkte, da hätten wir im Vorfeld unsere Standpunkte klarer benennen sollen.

Zum Beispiel?

Beim Thema Besiktas. Im Vorfeld der Unterzeichnung der Partnerschaftsverträge mit dem Istanbuler Stadtbezirk hätten wir unsere Vorbehalte deutlicher machen müssen. Heute sind die Verhältnisse in der Türkei – sagen wir mal: schwierig.

Harter Schnitt: Kommen wir zur Bundespolitik. Sind Sie neidisch, wenn Sie sehen, wie gut es plötzlich um die SPD steht?

Nein, ich mache mir eher Sorgen um die SPD. Ich habe sie immer geschätzt als Partei, die selbstkritisch war. Nun frage ich mich, ob der SPD diese Selbstkritik abhanden gekommen ist – angesichts der Wahl eines Kanzlerkandidaten, der 100 Prozent der Stimmen erhält, aber inhaltlich noch keine Position bezogen hat. Und: Was macht die SPD, wenn sie mit ihrem 100-Prozent-Kandidaten verliert? Dann folgt doch die große Depression.

Droht die nicht eher der CDU? Die jüngsten Umfragen zur Bundestagswahl im September zeigen, dass viele Menschen einen Wechsel wollen, also weg von Angela Merkel.

Die letzten Jahre unter Merkel waren die besten in der jüngeren Vergangenheit. Es ist unpopulär in einem Land, in dem gerne genörgelt wird, zu sagen: Guck mal, wie gut es uns geht, auch im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarn. Das muss man im Wahlkampf in den Vordergrund stellen.

Schließen Sie eine Koalition mit der AfD auf Landes- oder Bundesebene aus?

Ja.

Sie sind seit dem Sommer Lehrer am Mulvany-Berufskolleg. Ist Lehrer Ihr Traumberuf?

Eigentlich wollte ich anfangs nie Lehrer werden, auch nicht, als ich Abitur gemacht habe. Da bin ich erst mal zur Bundeswehr gegangen, habe anschließend eine Ausbildung als Versicherungskaufmann gemacht und dabei im Außendienst gearbeitet, also Türklinken geputzt. Dann wollte ich etwas anderes machen, habe Deutsch und Englisch studiert, und damit war mein Weg eigentlich vorgezeichnet. Denn: Mein Vater war Lehrer am Haranni-Gymnasium, meine Mutter war Lehrerin an der Melanchthon-Hauptschule, und meine Großmutter war Lehrerin in Düsseldorf. Da könnte man also sagen: Das liegt in der Familie.

Sie sind Reserveoffizier und Oberleutnant der Reserve. Hätten Sie sich keine Karriere bei der Bundeswehr vorstellen können?

Doch, ich wollte mich verpflichten. Ich war aber in einer Einheit, die geschlossen werden sollte, entsprechend war die Stimmung in der Einheit. Da gab es Auflösungserscheinungen. Und es gab noch nicht die Bundeswehrreform. Da habe ich mich noch während meines Wehrdienstes umentschieden. Aber: Ich wollte aktiv bleiben und habe deshalb schnell einen Antrag auf Übernahme ins Reserveoffizierverhältnis gestellt. Mit Erfolg. Daher habe ich während meines Studiums abwechselnd drei Monate an der Ruhr-Uni studiert und dann drei Monate Rekruten ausgebildet. Und nun bin ich Reserveoffizier.


Entweder. . . oder

Zigarette oder Schokolade?

Schokolade. Wenn ich nachdenken muss, auch gerne mal Pfeife. Das kann ich gut in Rauchschwaden.

Schalke 04 oder BVB?

BVB, da bin ich nicht nur Fan, sondern auch Mitglied.

Tatort oder Traumschiff?

Tatort. Früher fand ich immer den Münster-Tatort am besten, aber jetzt ist er mir zu albern geworden. Nun bin ich nicht festgelegt.

Herne oder Wanne-Eickel?

Herne!



Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb-Grün im Land?

Schwarz-Rot – um Frau Löhrmann zu verhindern.

>> ZUR PERSON: 2005 Eintritt in die CDU

Timon Radicke ist gebürtiger Herner und wohnt auf der Goethestraße in Herne-Mitte. Seine Nachbarn: die SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering und ihr Mann Franz, der Ex-Vizekanzler, sowie Grünen-Fraktionschef Thomas Reinke und Ulrich Finke, ein Vorgänger im Amt des CDU-Kreisvorsitzenden.

Der 31-Jährige besuchte die katholische Grundschule an der Bergstraße sowie das Haranni-Gymnasium, nach dem Wehrdienst studierte er Deutsch und Englisch an der Ruhr-Uni und ist seit diesem Schuljahr Lehrer am Mulvany-Berufskolleg in Herne. Sein Hobby ist Kraft- und Ausdauersport.

Politische Laufbahn: Eintritt in die Junge Union 2003, in die CDU 2005, von 2010 bis 2017 Vorsitzender im Stadtbezirk Herne-Mitte, 2014 bis 2016 Vorsitzender im Ortsverband Herne-Zentrum, 2010 bis 2017 erst Schriftführer der Europaabgeordneten Renate Sommer, dann stellvertretender Vorsitzender des CDU-Kreisverbands.