Herne. . 2016 sind Bewohner des Wanner Blocks Emscherstraße nach einer Schlägerei vertrieben worden. Die Aufarbeitung dauert an. Nun gibt es neue Details.

  • Innenministerium nimmt auf FDP-Anfrage zu Vorfällen an Emscherstraße Stellung und nennt neue Details
  • Herner Linke wirft der Stadt Herne vor, nicht eher auf Probleme reagiert zu haben
  • Verwaltung sucht am Donnerstag bei einem Bürgerforum Kontakt zu Bewohnern der Siedlung

Die Stadt sucht am Donnerstag bei einer Bürgerversammlung Kontakt zu Bewohnern des Brennpunkts Emscherstraße. Die Linke-Ratsfraktion wirft derweil der Verwaltung vor, in dem Wanner Hochhausblock nicht früher auf Probleme reagiert zu haben. Die Landesregierung hat am Dienstag eine Anfrage der FDP zur Vertreibung der rund 50 jesidischen Bewohner der Wanner Hochhaussiedlung im März 2016 (wir berichteten) beantwortet – allerdings nicht zur vollen Zufriedenheit der Liberalen.

Die Massenschlägerei im März 2016 zwischen Bewohnern mit jesidischem und libanesischem Hintergrund sei nicht auf einen „Religionskonflikt“ zurückzuführen – die Jesiden sind eine religiöse Minderheit –, sondern sei durch einen Streit „rivalisierender Fußballmannschaften“ ausgelöst worden, so das Innenministerium.

Nückel (FDP) sieht Widersprüche

Ralf Jägers NRW-Innenministerium hat in einer Antwort auf eine FDP-Anfrage zu den Vorfällen im Hochhausblock Emscherstraße in Wanne Stellung genommen.
Ralf Jägers NRW-Innenministerium hat in einer Antwort auf eine FDP-Anfrage zu den Vorfällen im Hochhausblock Emscherstraße in Wanne Stellung genommen. © imago stock&people

In der Antwort des von Minister Ralf Jäger geführten Innenministeriums finden sich neue Details. So habe die Polizei am Tag nach der Schlägerei bei einem Einsatz in der Siedlung gegen „libanesische Personen“ insgesamt 27 Platzverweise ausgesprochen. Dabei seien „Schlagwerkzeuge“ wie Baseballschläger und Spatenstiele sowie Reizgas sichergestellt worden.

Wie schon zuvor die Polizei erklärt das Innenministerium, dass der Schutz der Jesiden „zu jeder Zeit“ habe gewährleistet werden können. Und: Die Jesiden hätten „freiwillig“ die Siedlung verlassen.

Diese Einschätzungen wecken den Widerspruch des FDP-Landtagsabgeordneten Thomas Nückel: Als die Polizei aus der Siedlung verschwunden sei, sei dann doch etwas passiert – „insofern war der ,freiwillige’ Umzug doch nicht so freiwillig“, so der Liberale. In Frage stellt er auch die Aussage, dass es sich lediglich um eine Auseinandersetzung rivalisierender Fußballmannschaften gehandelt habe.

Linke kritisiert Versäumnisse der Stadt

Daniel Kleibömer (Linke) wirft der Verwaltung vor, nicht früher auf Probleme in der Siedlung reagiert zu haben.
Daniel Kleibömer (Linke) wirft der Verwaltung vor, nicht früher auf Probleme in der Siedlung reagiert zu haben. © Socrates Tassos, Archiv

Daniel Kleibömer (Linke) richtet den Fokus auf das Verhalten der Stadt. „Die Probleme in der Siedlung waren seit mehreren Jahren bekannt“, sagt der Fraktions-Geschäftsführer. Auch seine Partei habe keine Patentlösung, doch Handlungsbedarf habe schon eher bestanden. Das Bürgerforum sei ein „Schritt in die richtige Richtung“. hätte jedoch schon viel eher durchgeführt werden müssen.

Der CDU – sie hatte Ende 2016 die Probleme öffentlich gemacht („in der Siedlung herrscht das Faustrecht“) – und der FDP wirft Kleibömer vor, die Diskussion „skandalisiert“ zu haben. Vieles hätte man auch intern ansprechen können, so die Linke.

Antworten des Landes auf die FDP-Anfrage 

Zur Kleinen Anfrage des FDP-Landtagsabgeordneten Thomas Nückel nahm das NRW-Innenministerium wie folgt Stellung.

Frage 1: Welche konkreten Kenntnisse liegen dem Innenministerium zu diesem Vorfall vor?

„Vorfälle in Herne:

Am 27.03.2016, gegen 16.00 Uhr, kam es im Bereich der Emscherstraße 88 in Herne auf und um den dortigen Bolzplatz herum, zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen überwiegend dort wohnhaften Mitgliedern jesidischer und libanesischer (muslimischer) Familienclans. Beim Eintreffen der Polizei befanden sich ca. 70 - 80 Personen vor Ort. Durch die Polizeikräfte konnte die Lage beruhigt werden. Zur Verhinderung weiterer Straftaten wurden Platzverweise gegenüber Mitgliedern beider Parteien ausgesprochen. Der Platzverweis für Bewohner des Wohnblocks Emscherstraße bezog sich ausschließlich auf den Bolzplatz und unmittelbare Umgebung. Die im Wohnblock Emscherstraße wohnhaften Jesiden begaben sich dann freiwillig nach Gelsenkirchen. Die Polizei Gelsenkirchen wurde über den Einsatz an der Emscherstraße fernmündlich in Kenntnis gesetzt. Während der Sachverhaltsabklärung vor Ort auf dem Bolzplatz, kam es gegen 17.30 Uhr zu einer Sachbeschädigung an einer durch Jesiden bewohnten Wohnung an der Emscherstraße 88. Die Außenscheibe der Wohnung im 1. OG wurde mit einem Stein eingeworfen. Hierzu wurde eine gesonderte Strafanzeige gefertigt. Vom Bolzplatz ist die Wohnanlage Emscherstraße aufgrund vom Baumbewuchs nicht einsehbar. Aufgrund der Vorkommnisse wurden verstärkte Aufklärungsmaßnahmen im Bereich der Emscherstraße veranlasst und am 28.03.2016 bei den beteiligten Personen, sofern sie angetroffen wurden, Gefährderansprachen und Sicherheitsgespräche durchgeführt. Am 28.03.2016, gegen 20:15 Uhr, wurde eine erneute Ansammlung libanesischer Personen an der Emscherstraße 88 gemeldet. Durch Einsatzkräfte wurden die im Umfeld angetroffenen Personen kontrolliert und insgesamt 27 Platzverweise ausgesprochen. Schlagwerkzeuge (Baseballschläger, Spatenstiel) sowie Reizgas wurden sichergestellt. ln der Nacht erfolgten weitere Aufklärungsmaßnahmen im Bereich Emscherstraße. Zu weiteren Vorfällen kam es nicht.

Am 31.03.2016 kam es zu einer Bedrohung zum Nachteil eines libanesischen Bürgers. Das führte zu einem Treffen von circa 60 Libanesen im Bereich der Emscherstraße in Herne. Durch starke Polizeipräsenz und gezielte Ansprachen konnte die Lage vor Ort beruhigt werden. Entsprechende Schutzmaßnahmen wurden angeordnet und Sicherheitsgespräche mit den gefährdeten Personen durchgeführt. Weitere Zwischenfälle wurden nicht bekannt. Die angeordneten Aufklärungsmaßnahmen wurden bis zum 04.04.2016 durchgeführt. Nach Abschluss der Ermittlungen konnte kein Religionskonflikt als Auslöser für die Schlägerei am 27.03.2016 und die weiteren Straftaten erkannt werden. Vielmehr wurde deutlich, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Fußballmannschaften und - anhängern handelte, losgelöst von ihrer religiös-ideologischen Ausrichtung. Der Vorgang wurde der zuständigen Staatsanwaltschaft Bochum zur weiteren Veranlassung zugesandt. Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren (123 JS 280/16) ist noch nicht abgeschlossen. In einem Telefonat wurde Herrn Telim Tolan vom Zentralrat der Jesiden in Deutschland auf Nachfrage verdeutlicht, dass die Polizei Bochum in der Lage sei, die Gruppe der Jesiden zu schützen und deren Rückkehr in ihre Wohnungen auf der Emscherstraße in Herne nichts entgegenstünde. Als Sprecher der Gruppe der Jesiden lehnte er eine Rückkehr an die Emscherstraße jedoch weiterhin kategorisch ab.

Vorfälle in Gelsenkirchen:

Am 28.03.2016 sammelten sich die Jesiden aus Herne im Kulturverein ROJAVA an der Grenzstraße 66. Telefonisch meldeten sich diese um 14.32 Uhr bei der Leitstelle der Polizei Gelsenkirchen, da sie das Erscheinen der libanesischen Familien befürchteten. Bei Eintreffen der Polizei wurden ca. 50 Jesiden angetroffen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Lageerkenntnisse wurden Schutzmaßnahmen am Objekt angeordnet. Nachdem die Jesiden die Örtlichkeit verlassen hatten, wurden die Schutzmaßnahmen gegen 20:00 Uhr eingestellt. Um 21:13 Uhr erschienen mehrere Personen mit Fahrzeugen am Kulturverein ROJAVA und schlugen mit Baseballschlägern und Stöcken mehrere Scheiben des zu diesem Zeitpunkt leeren Kulturvereins ein. Noch vor dem Eintreffen der ersten Funkstreifenwagen flüchteten alle Personen zu Fuß oder mit dem Pkw. Im Rahmen der Nahbereichsfahndung wurden 15 Personen und vier Fahrzeuge überprüft. Ein unmittelbarer Bezug zur Tat konnte nicht festgestellt werden. Eine Strafanzeige wurde gefertigt. Am 31.03.2016, gegen 20:00 Uhr, erschienen auf der Polizeiwache Süd drei Jesiden, von denen eine Person angab, dass zwei Anrufe auf seinem Handy eingegangen seien, die mit der vorhergegangenen Auseinandersetzungen in Verbindung stehen würden. In diesem Zusammenhang wurde auch Angst vor der libanesischen Gruppe geäußert. Es wurden umgehend Aufklärungsmaßnahmen in dem Wohnbereich der Jesiden angeordnet. Dieser Sachverhalt ist Aktenbestandteil des Ermittlungsverfahrens aufgrund des Vorfalles vom 28.03.2016. Das diesbezügliche Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Essen (Az.: 29UJs133/16) ist noch nicht abgeschlossen. Am 06.04.2016 fand ein Schlichtungsgespräch (ohne Polizeibeteiligung) zwischen den beteiligten jesidischen und libanesischen Familien statt. Nach telefonischer Auskunft von Herrn Tolan vom Zentralrat der Jesiden seien derzeit keine Auseinandersetzungen mehr zu erwarten. Die Jesiden würden zunächst in Gelsenkirchen bleiben, seien aber auf Wohnungssuche.“

Frage 2: Was ist mit der Formulierung seitens der Polizei „der Einzelfall (sei) komplett abgearbeitet gemeint?

„Diese Formulierung des Pressesprechers der Polizei Bochum beschreibt, dass alle anlassbezogenen polizeilichen Maßnahmen getroffen wurden, um den in Rede stehenden Sachverhalt zu klären bzw. weitere ähnlich gelagerte Sachverhalte zu verhindern. Es wurden alle gefahrenabwehrenden sowie strafverfolgenden Maßnahmen durch die zuständigen Einsatzkräfte bzw. Ermittlungsbeamten initiiert und konsequent umgesetzt. Zu einer Wiederholung eines derartigen Vorfalls kam es nicht.“

Frage 3: Warum konnte die Gruppe von jesidischen Flüchtlingen in Herne nicht geschützt werden?

„Der Schutz der Jesiden in Herne bzw. in Gelsenkirchen war zu jeder Zeit gewährleistet. Durch die Polizei wurden nach Bekanntwerden der Vorfälle umgehend die erforderlichen polizeilichen Schutz- und Aufklärungsmaßnahmen angeordnet. Weitere Ausführungen siehe Antwort zu Frage 1.“

Frage 4: Welchen weiteren Vorfälle zwischen Jesiden und Muslimen sind der Landesregierung in NRW darüber hinaus bekannt?

„Am 06.08.2014 kam es in Herford zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Muslimen und Jesiden. Dies war Tagesordnungspunkt der Innenausschusssitzung am 28.08.2014 (Vorlage 16/2102). Darüber hinaus kam es am 16.05.2016 in einer Unterbringungseinrichtung für Zuwanderer in Bielefeld während eines Fußballspiels unter den Bewohnern zu einer körperlichen Auseinandersetzung, nachdem ein Spieler jesidischen Glaubens einen Gegenspieler muslimischen Glaubens gefoult hatte. Bei der Auseinandersetzung wurden ein Spieler sowie ein muslimischer Zuschauer, der die Auseinandersetzung zu schlichten versuchte, aus der Gruppe der Jesiden leicht verletzt. Weitere Vorfälle sind hier nicht bekannt. Eine polizeiliche Statistik über Vorkommnisse im Zusammenhang mit Jesiden wird nicht geführt.“

Frage 5: Gibt es besondere Schutzmaßnahmen für Menschen jesidischen Glaubens in Nordrhein-Westfalen?

„Besondere Schutzmaßnahmen für Menschen jesidischen Glaubens sind derzeit in Nordrhein-Westfalen nicht angeordnet.“