Herne. . Nuray Sülü ist Hernes Kinderanwältin, Hedwig Blanke ihre Vorgängerin. Mit der WAZ sprachen die Frauen über Anliegen von Herner Mädchen und Jungen
Hernes Kinder haben seit nunmehr 25 Jahren eine Anwältin, die ihnen in schwierigen Situationen zur Seite steht, mit ihnen Projekte realisiert und für ihre Rechte eintritt. Nuray Sülü (49) heißt Hernes Kinderanwältin. Die Position übernahm sie von Hedwig Blanke ( 60) vor 15 Jahren, die diese Stelle im Jahr 1992 mit ins Leben rief. Seitdem genießt das Amt der Kinderanwältin in der Herner Jugendhilfe hohes Ansehen. WAZ-Mitarbeiterin Elena Boroda sprach mit beiden Pädagoginnen über Meilensteine der Kinderrechte in Herne und anstehende Vorhaben.
Genau genommen heißt Hernes Kinderanwältin Bibi Buntstrumpf und ist eine bunte Zeichenfigur. Wofür steht Bibi?
Nuray Sülü: Ich werde als Bibi angesprochen und auch geduzt. Die Kinder haben keine Hemmschwelle, mit ihren Sorgen zu Bibi zu kommen. Das fällt ihnen deutlich leichter als ein Gang zum Jugendamt.
Hedwig Blanke: Bibi ist eine Person, die zaubern kann wie Bibi Blocksberg und so stark ist wie Pippi Langstrumpf. Als ich Kinderanwältin war, habe ich mich dem bunten Bild angepasst und bei Terminen mit Kindern auch bunte Leggins angezogen.
In ihren jeweiligen Amtszeiten konnten Sie spannende Projekte realisieren. Was hat es mit den Stadtdetektiven oder auch Kinderstadtplänen auf sich?
Sülü: Es gab viele Bibi-Projekte und noch mehr Ideen. Ein großer Teil der Arbeit ist die Teilhabe der Kinder an Prozessen und Entscheidungen, also Partizipationsarbeit. Kinderstadtpläne sind ein Beispiel dafür. Die Kinder haben für sie wichtige Anlaufpunkte in Herne in einen Stadtplan eingetragen. Es gab eine Kooperation mit der Stadtverwaltung Herne. Die Ergebnisse haben die Kinder dann auf einer Pressekonferenz selbst vorgestellt. Kindern sollte man viel zutrauen. Schenkt man Kindern mehr Vertrauen, wachsen sie an diesem.
Blanke: Anfang der 90-er gab es ein „Stadtteildetektive“-Projekt. Kinder gingen durch ihren Stadtteil und schauten genau hin, was ihnen gefiel und was nicht. Das Projekt hatte weitreichende Folgen. Die Kinder entdeckten, dass außer einem Bioladen alle anderen Geschäfte in der Wanner Fußgängerzone Plastiktüten verkauften. Das bemängelten sie. Später verkaufte kein einziger Laden in dem Stadtteil Plastiktüten, nur noch Papiertüten. Das ging auch auf die Aktion der Kinder zurück.
Zurzeit sind Sie, Frau Sülü, im Projekt „Jugendforum“ aktiv. Jugendliche engagieren sich dabei in der Kommunalpolitik.
Sülü: Das ist ein gemeinsames Projekt mit dem Kinder- und Jugendparlament. Oft höre ich die Beschwerde, Kinder und Jugendliche interessierten sich nicht für Politik. Kein Jugendlicher fühlt sich in starren Strukturen wohl, aber Kinder und Jugendliche haben ganz viel zu sagen. Ich lerne viel von ihnen. In diesem Projekt kommen die Jugendlichen mit dem Bezirksbürgermeister Ulrich Koch zusammen, werden mit Landtagsabgeordneten diskutieren und nach Berlin fahren. Auf Wunsch der Jugendlichen treffen wir uns einmal die Woche.
Wie kamen Herner Kinder zu ihrer eigenen Anwältin?
Blanke: In den 80er Jahren waren Kinderrechte ein großes Thema. Die Herner Falken haben sich für das Amt der Kinderanwältin stark gemacht. Sie nutzten ihre Kontakte zur Politik. Der Rat der Stadt beschloss dann die Einrichtung dieser Stelle Anfang der 90er Jahre.
Welche Themen beschäftigen Kinder heutzutage, welche Probleme waren es in den 90er Jahren?
Sülü: Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf Projekten und auch der Aufklärung zu Kinderrechten. Die Themen reichen von „Ich darf draußen nicht Fußball spielen“ bis zum sexuellen Missbrauch. Nach meiner Beobachtung haben Fälle zugenommen, in denen das Kind das andere Elternteil nicht sehen darf. Es gibt viele getrennte Eltern, getrennte Familien, Patchwork-Familien. Das belastet die Kinder enorm. Cyber-Mobbing ist auch ein Thema. Auch Kinder, die in Schulen gewalttätig sind. Psychologische Erkrankungen nehmen zu. Die Lebenswelt der Kinder wird komplizierter.
Blanke: Zu meiner Zeit war die Kernaufgabe, Kindern Teilhabe zu ermöglichen, auch Überzeugungsarbeit bei der Verwaltung zu leisten. Jugendliche als Zielgruppe sind erst später hinzugekommen. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit war die Spielplatzplanung, auch die Nutzung von Bolzplätzen. Ich habe viele Aktionen draußen durchgeführt. In der Einzelfallarbeit waren Gewaltfälle häufiger als jetzt. Das waren keine Situationen, in denen Kinder grün und blau geschlagen wurden, sondern zum Beispiel ein Lehrer, der einem Kind einen Schlüsselbund hinterherwarf.
Musste sich die Kinderanwältin auch mit Fällen von Zwangsheirat auseinandersetzen?
Nuray Sülü: Das ist in meiner Zeit einmal vorgekommen, und ich konnte da auch helfen. Ausländische Mädchen haben weniger Freiräume. Und es fällt ihnen auch deshalb schwerer, authentisch zu sein und sich zu entfalten.
Ist Kinderarmut ein wichtiges Thema?
Sülü: Wenn ich in Schulen als Bibi Buntstrumpf auftrete, kommen alle Kinder. Jedes Kind hat eigene, individuelle Anliegen. Kinder aus finanziell abgesicherten und armen Verhältnissen haben unterschiedliche Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. An unseren Projekten nehmen Kinder aus allen Schichten teil. Für unser Zeltlager im Sommer gibt es einen Sondertopf für bedürftige Kinder.
Als Kinderanwältin arbeiten Sie auch mit der Herner Verwaltung zusammen. Wie wird das Amt der Kinderanwältin seitens der Stadt wahrgenommen?
Sülü: Wenn es Missstände bei der Stadt gibt, dann spreche ich das offen an. Damit mache ich mich nicht beliebt. Bei der Verwaltung und Erwachsenen muss ich das auch gar nicht - bei Kindern schon. Die großen Kämpfe für die Akzeptanz der Kinderanwältin gibt es aber nicht mehr.
Hedwig Blanke: Früher war das anders. Ich erinnere mich an eine Situation zu meiner Zeit. Es ging um eine Spielstraße, die von Autos als Abkürzung genutzt wurde. Ich hatte in meinem Amt als Kinderanwältin Politiker und Verwaltung in den Stadtteil geladen. Die geladenen Gäste rissen das Zepter sogleich an sich und eröffneten die Veranstaltung. Mir war nur die Sache der Kinder wichtig.
Welches Projekt hat eine besondere Bedeutung für Sie?
Sülü: Als wir die Kinderstadtpläne erstellt haben, war es mir wichtig, dass die Kinder ihre Ergebnisse auf der Pressekonferenz selbst präsentieren.
Haben Kinder heute mehr Rechte als früher?
Sülü: Die Bedingungen für Kinder werden besser. Inzwischen sind viele Schulen mit Kinderrechten vertraut. Das Thema stößt auf offene Ohren. Bei den Eltern ist die Sichtweise sehr unterschiedlich. Früher war ich forscher bei meiner Aufgabe als Anwältin für Kinderrechte. Jetzt sehe ich, dass alle Eltern im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln.
Welche Wünsche haben Sie für Ihre zukünftige Arbeit?
Sülü: Dass in Schulen bestimmte Fächer wie Familienkunde eingeführt werden. Denn viele Kinder kommen aus zerrütteten Familien. Ebenso ist mir wichtig, dass Politikunterricht mehr Bezug zur eigenen Stadt und zu Kinderrechten bekommt.
Blanke: Ansonsten muss man sagen, dass die Kinder die Themen bestimmen.
>>> Zur Person: Nuray Sülü und Hedwig Blanke
Nuray Sülü (49) ist Pädagogin, systemische Therapeutin, Deeskalationstrainerin und Verfahrensbeistand. In ihre heutige Heimat Herne zog die amtierende Kinderanwältin mit neun Jahren aus der Türkei. Die Mutter eines 21-jährigen Sohnes reist gerne, kocht am liebsten für viele Menschen und joggt regelmäßig.
Hedwig Blanke (60) war Hernes Kinderanwältin bis 2002. Mittlerweile ist sie als Lehrerin an einem Dortmunder Berufskolleg tätig. Ihr Hobby ist es, draußen in der Natur zu sein - sowohl am Meer als auch an der See. Seit über 30 Jahren ist sie Wannerin und zählt sich deshalb als „Ureinwohnerin“.