Herne. . Carsten Piechnik nimmt Anstoß an den Parallelwelten des deutschen Schulsystems. Der 47-jährige Lehrer komplettiert den Vorstand der GEW.

  • Carsten Piechnik wurde in den Vorstand der GEW Herne gewählt
  • Der Gesamtschullehrer kritisiert den Stress für Schüler, aber auch für Lehrer
  • Gesamtschule und dreigliedriges Schulsystem passten nicht zusammen

Carsten Piechnik ergänzt seit der letzten Jahreshauptversammlung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Herne das Vorstands-Dreigestirn: Neben Kathrin van Hoften und Ralph Stenzel gehört der 47-Jährige jetzt dem Führungsgremium der rund 540 Mitglieder starken Ortsgruppe an. Wir wollten wissen, wo er seine Schwerpunkte setzten möchte und was dem Lehrer in seiner gewerkschaftlichen Arbeit am meisten am Herzen liegt.

Herr Piechnik, was sind die drängendsten Aufgaben, die Sie als GEW-Vorstand bewegen und in denen Sie auch etwas bewegen wollen?

Piechnik: Die wichtigste Aufgabe ist es sicherlich, die Fragen von zahlreichen Kollegen aufzunehmen, die darüber berichten, dass die Voraussetzungen an den Schulen, den zahlreichen Anforderungen zu genügen, gelinde gesagt nicht optimal sind. Die wichtigsten Themenfelder sind hier Inklusion, Beschulung von Seiteneinsteigern, also in der Regel von Kindern mit Flüchtlingshintergrund, Fragen von G8 und G9, wie sie in der Öffentlichkeit ziemlich intensiv diskutiert werden und Fragen zum Beispiel der Gerechtigkeit, was Bezahlungsbedingungen von verbeamteten und angestellten Lehrern oder von Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst anbelangt. Die große Überschrift über allem ist nach meiner Wahrnehmung allerdings ,Belastung’, die ich von den Kollegen, aber auch von den Schülern gespiegelt bekomme. Da haben wir als Kollegen eine Beratungsaufgabe in allen Richtungen und Funktionen auch gegenüber dem Dienstherrn, und dort würde ich meine Rolle sehen. Immer wieder zu fragen, wo können wir Stellschrauben finden, um Dinge besser zu machen.

Wo sehen Sie denn bei der Belastung von Lehrern die Hauptproblematik?

Die Aufgaben sind intensiver geworden. Die Lebenssituationen von Kindern sind unterschiedlicher geworden, und entsprechend sind die Lösungsansätze vielschichtiger bei nicht mitgewachsenen Ressourcen, die zur Verfügung gestellt werden. Zeitliche Ressourcen beispielsweise oder Entlastungsmöglichkeiten.

Worin besteht Ihr Gerechtigkeitsproblem bei der Bezahlung von Beamten und Angestellten?

Die Bezahlung von Beamten ist in der Regel deutlich besser, obwohl die Leute die gleiche Arbeit machen.

Man kann sich vorstellen, dass sich das Problem angesichts des immer krasser werdenden Lehrermangels noch verstärkt. Im Moment wird sehr stark nach Lehrkräften gesucht, das ist eines der größten aktuellen Probleme. Am Ende bedeutet das, dass in Schulen Kräfte fehlen, die die Arbeit machen, und dass andere das auffangen müssen – oft, so wird uns berichtet, bis über die Grenzen der Belastungsfähigkeit hinaus. Alternativ müsste man Unterricht ausfallen lassen, was unerwünscht ist, oder man stellt Leute befristet und niedriger entlohnt ein, die den Lehrerberuf eigentlich gar nicht angestrebt haben.

Wo kommt der Lehrermangel her, eigentlich ist der Lehrerberuf doch ein schöner? Liegt es daran, dass die Leute Angst haben vor schwierigen Situationen in Schulklassen?

Ich glaube, es ist eine Gemengelage, die dazu führt, dass die attraktiven Anteile des Berufes aus der Sicht Vieler überlagert werden, z.B. von Aspekten wie eben der Belastung, teilweise auch der Bezahlung, aber sehr auch durch Widersprüche im System.

Schüler der Erich-Fried-Gesamtschule, an der Sie unterrichten, haben eine Umfrage mit 1100 Teilnehmern zum Thema Schulstress gemacht. Sie haben das Projekt begleitet. Wie lautet Ihr Fazit?

Ausgangspunkt war ja, dass die Schüler berichteten, dass sie an vielen Ecken und Kanten unter Druck geraten sind. Sie berichteten über fehlende Zeit, konnten an Veranstaltungen nicht teilnehmen, weil sie Klausuren hatten oder Referate vorbereiten mussten, also schulische Bedingungen hatten, die verhinderten, dass sie andere auch gesellschaftlich wünschenswerte Dinge tun konnten. Sie berichteten z.B. über Druckempfinden, Müdigkeit und Erschöpfung, teilweise bis hin zu pathologischen Ausmaßen. Wir haben die Pisa-Studie also ergänzt und gefragt, wie glücklich sind die Schüler, wie empfinden sie schulische Bedingungen für die Bildung von Kreativität, Empathie, Toleranz, Wohlsein – Fragen also zu Bereichen des Mensch-Seins, die die Pisa-Studie gar nicht in den Blick nimmt. Hier wird nur in den Kategorien Naturwissenschaften, Mathematik und Sprachkompetenz gedacht. Die Pisa-Studie ist ja von der OECD in Auftrag gegeben worden, diese hat aber vorwiegend die ökonomische Entwicklung zum Ziel.

Die reine Leistung steht also hier im Vordergund.
Es geht der Organisation letztendlich darum, wie man wirtschaftlich aufgestellt ist. Das ist legitim, aber Menschwerdung ist deutlich mehr als nur das, und die Schüler regen an, dass man mehr tun muss, wenn man ernsthaft ganzheitlich Menschen-Bildung möchte.

Wie geht es jetzt weiter? Wie wollen Sie diese Anregungen umsetzten?

Es gibt zwei Wege. Wir wollen erstens versuchen, die Umfrage u.a. über die Landesschülervertretung noch bekannter zu machen, und zweitens wollen wir auf die Ebene der Politik gehen, weil wir tatsächlich etwas verändern wollen. Wir haben Landes- und Kommunalpolitiker im Vorfeld der Landtagswahl zu einer Podiumsdiskussion eingeladen, um herauszustellen, welchen Blick die Parteien auf unser Anliegen haben und Anregungen zu geben. Außerdem schreiben wir gerade an den Petitionsausschuss des Landtages und bitten ihn, unser Anliegen dort einzubringen.

An Gesamtschulen gibt es ja überall noch die gute, alte neunjährige Schulzeit. Wenn Ihre Schüler hier schon gestresst sind, wie muss es erst an Gymnasien mit G8 sein?

In unserer Umfrage findet man zwar Nuancen, aber nicht, dass die Schüler an Gymnasien angeben, insgesamt deutlich mehr Stress zu haben. Wir führen das darauf zurück, dass die Schüler an Gymnasien oft mit anderen Eingangsvoraussetzungen kommen. Vielleicht, weil sie mehr Unterstützung aus ihren oft bildungsnäheren Elternhäusern haben, vielleicht auch finanziell besseren Rückhalt. Aus unserer Sicht ist G8 zwar ein sehr zu hinterfragender Faktor, allerdings aus anderen Gründen, eher weniger aufgrund von noch größerem Stressempfinden der Schüler.

Was muss sich im deutschen Schulsystem insgesamt ändern?

Historisch gesehen, kommen wir aus einer dreigegliederten Schule im Kaiserreich mit einem gewissen Begabungsverständnis, die Kinder wurden eingeteilt. In Finnland macht man das anders, da werden Wohlbefinden und Kommunikation an erste Stelle gestellt. Man denkt dort mehr in einem System von Förderung, blickt in allen Ebenen mehr auf den einzelnen Schüler, das ist ganz anders als in unserem diesbezüglich widersprüchlichen Bildungssystem. Wir haben ein gegliedertes und ein Gesamtschulsystem parallel dazu. Beide Systeme schließen sich vom systemischen Denken her eigentlich aus. Und dann wie eine Christbaumkugel mittendrin zum Beispiel Inklusion, die wir grundsätzlich sehr begrüßen, die aber genau widersprüchlich ist zu einem gegliederten System. Diese Widersprüche stellen Lehrer und Schulen dann vor eine eigentlich nicht zu leistende Aufgabe. Beispiel: Alle Schulformen nehmen zurzeit Flüchtlingskinder auf. Wenn die sprachliche Förderung dann nach zwei Jahren abgeschlossen ist, was geschieht dann beispielsweise an Gymnasien mit diesen Kindern? Wenn die Kinder aber das gymnasiale Niveau nach diesen zwei Jahren nicht erreicht haben, wird der Weg an dieser Schulform vermutlich schwierig. In vielen Städten überlegt man dann, diese Kinder auf andere Schulformen zu verteilen. In der jeweiligen Klasse oder Lerngruppe vor Ort „beißen sich“ dann direkt die Selektionsfunktion von Schule mit den Integrations- und Inklusionsgedanken.

Derlei Fragen möchten wir anregen, es geht am Ende schließlich um Menschenleben - die von Kindern und Jugendlichen aber auch von in Schulen Beschäftigten und natürlich auch von betroffenen Eltern.

Zur Person

Carsten Piechnik ist 47 Jahre alt und unterrichtet seit 17 Jahren an der Erich-Fried-Gesamtschule an der Grabenstraße, wo er direkt nach seinem Referendariat anfing. Piechnik studierte Biologie und Erziehungswissenschaften als Hauptfach in Bielefeld.

An der Erich-Fried-Gesamtschule unterrichtet Piechnik Pädagogik und Biologie. Er hat einen Sohn und ist geschieden. Seine Hobbys sind „mit Freunden treffen, wenn es zeitlich geht“ und ab und zu Gitarre spielen in einer Rockband.