herne. . Jürgen Wiebicke las aus seinem Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land“. An seiner Seite: Franz Müntefering, den er im Sommer 2015 in Herne traf.

  • Jürgen Wiebicke ist den Hörern von WDR 5 vom „Philosophischen Radio“ bekannt
  • Im Sommer 2015 wanderte er durch Deutschland und traf dabei unter anderem Franz Müntefering
  • Aus seinem Buch „Zu Fuß durch ein nervöses Land“las er jetzt im Literaturhaus

Seine Wege sollten ihn auch dorthin führen, wo es schäbig ist. Als Jürgen Wiebicke los wanderte im heißen Sommer 2015, tat er das auch mit der Absicht, die Gesellschaft „von ihren Rändern her“ verstehen zu wollen. Der Journalist, bekannt vom „Philosophischen Radio“ des WDR, nahm sich vier Wochen Zeit, um Deutschland zu durchstreifen, auf einer „chaotischen Route“ und ohne Ziel. Was er dabei erlebte, hat Wiebicke niedergeschrieben. „Zu Fuß durch ein nervöses Land“ heißt sein Buch. Am Mittwoch stellte er es im Literaturhaus Herne vor.

Dass sie keine Lesung im üblichen Sinne zu erwarten hatten, war den Zuhörern schon beim Ticketkauf klar, war doch neben dem Autor einer seiner prominenten Gesprächspartner angekündigt, mit dem er sich im Verlauf seiner Wanderung verabredet hatte: Franz Müntefering. Dieser hatte am Mittwoch den Auftritt des Kanzlerkandidaten Martin Schulz im Mondpalast nach einer Stunde verlassen, um pünktlich in der Alten Druckerei zu sein.

Zufallsbegegnung vor einer von vielen Spielhallen

Mit Müntefering hatte sich Wiebicke am 16. Juli 2015 in Herne getroffen - einer Stadt, die ihn auf seinem Fußweg von Recklinghausen aus zunächst durch die Vielzahl ihrer Spielhallen verblüfft hatte. Vor einer traf er Can, der offen über seine Spielsucht sprach. Eine Zufallsbegegnung wie viele zwischen den verabredeten Terminen. „Sensibel zu sein für Zufälle“, sagte Jürgen Wiebicke später, sei ihm in diesen Wochen des Unterwegsseins wichtig geworden.

Wiebicke und Müntefering sind zwei, die sich gut verstehen: Dieser Eindruck verfestigte sich im Laufe eines inspirierenden Abends. Der Philosoph wünschte sich neue Orte des Austausches, der Politiker pflichtete ihm bei: „Ich vermisse das Miteinandersprechen.“ Auch Müntefering, der „Volksschüler“, wie er gerne selbst kokettiert, hat einen „Hausphilosophen“, war zu erfahren: Albert Camus begleitet ihn seit seiner Jugend. „Müntefering deutet ihn so: ,Ich protestiere, also bin ich’“, liest Wiebicke vor, zwischendurch immer mal auf den Ex-Kanzler blickend: „Ich muss ein bisschen gucken, wie Sie reagieren.“ Franz Müntefering versichert dem Autor, er habe sein Buch gerne gelesen: „Das ist gut gemacht. Schreiben Sie mal weiter.“

Die Zeit als großes Thema an diesem Abend

Damals hatten sich die beiden in einem Straßencafé über vieles unterhalten, über Politik und Wirtschaft und die Umgestaltung des Alters, dem Müntefering mit den drei L - „Laufen, Lernen, Lieben“ - begegnet.

Ein großes Thema im Literaturhaus ist an diesem Abend die Zeit. Jürgen Wiebicke entdeckte wandernd ein ganz neues Zeitgefühl. Und Müntefering erklärt: „Ich kümmere mich um die Dinge, die für mich wichtig sind und da bohre ich tief.“ Er plädiert für die Reflexion vor der Aktion und für die „Philosophie als Pflichtfach“, für Bewegung und Begegnung. Wiebicke liest dann noch etwas über einen Angler, dem er in Henrichenburg begegnet ist und erweist sich als Meister des mühelosen Formulierens, dessen freundliche Radiostimme unaufgeregt Kluges vorzutragen weiß. In Kombination mit einem so entspannten wie hellwachen Alt-Politiker gelang im Literaturhaus eine philosophisch-politische Debatte, die viele Denkanstöße gab.

>>> ZUR PERSON

Jürgen Wiebicke, geboren 1964, studierte in Köln Philosophie und Germanistik.

Er volontierte beim Sender Freies Berlin und war dort Redaktionsleiter. Seit 1997 arbeitet er freiberuflich.

Beim WDR moderiert er freitags abends „Das philosophische Radio“, die einzige interaktive Philosophie-Sendung im Hörfunk.

„Zu Fuß durch ein nervöses Land“ ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen. 19,99 Euro.