herne. . Barbara Skratek unterrichtet Kinder aus sieben Nationen in Herne-Börnig. Wie diese die deutsche Schule erleben, lässt sie Delovan (10) erzählen.
- In der Willkommenklasse der Vellwigschule kommen die Kinder aus sieben Ländern
- Mit Liedern, Märchen und der Kunst nähern sie sich der deutschen Sprache
- Lehrerin Barbara Skratek hat über die Klasse aus der Sicht des syrischen Jungen Delovan geschrieben
„Schneewittchen“ ist ein schweres Wort, wenn man aus Syrien, Albanien oder dem Sudan kommt. Joana, Sami, Mohammad und die anderen Kinder aus der Willkommensklasse schlagen sich wacker. „Spieglein, Spieglein an der Wand“, sagt ein Junge den bekannten Märchenspruch auf. Wer nicht weiter weiß, darf auf die Tafel gucken, wo ein mit farbiger Kreide und viel Liebe gemaltes Tafelbild einige Verse und Szenen nachzeichnet - inklusive Happy End mit Herzen.
Mittendrin: Barbara Skratek, seit 32 Jahren im Schuldienst und an der Vellwigschule Klassenlehrerin einer so genannten Willkommensklasse. Um sie herum im Stuhlkreis sitzen die Älteren, Acht- bis Elfjährige aus sieben Nationen, die das Leben nach Herne-Börnig gespült hat. Sie lernen hier ihre ersten Worte Deutsch.
In Barbara Skrateks Klasse sind viele schon über die ersten Worte hinaus. Zungenbrecher wie „Becherchen“ und „Tellerchen“ kriegen sie ganz gut hin. „Und wie geht es weiter?“, fragt die Lehrerin zwischendurch immer wieder. Spannend ist das, wenn Barbara Skratek „Schneewittchen“ erzählt, fast wie ein Krimi. Sogar drei Blutstropfen kommen darin vor. „Dann kommt drei Blüte“, sagt ein Kind. Als Sami dran ist, hört er gar nicht wieder auf. Schneewittchen im Schnelldurchlauf.
Es ist nicht die erste Klasse mit Flüchtlingskindern, die die 60-jährige Lehrerin an der Vellwigschule unterrichtet und anders als früher, als sie an der Schulstraße die Kinder von der Einschulung bis in die vierte Klasse begleitete, hat sie es hier mit immer wieder neuen Kindern zu tun. „Vor und nach den Sommerferien sind noch einmal viele Kinder gekommen“, erzählt sie. An der Vellwigschule bleiben die Willkommenskinder erst mal zusammen. „Wie sollen sich die Regelklassen auch darum noch kümmern?“ Ein Schüler ist zehn und hat zu Hause noch nie eine Schule besucht.
Kunst und Lieder sind wichtig
Neuland hat die erfahrene Lehrerin trotzdem in Börnig nicht betreten. „Ich habe vorher an einer Schule mit hohem Migrantenanteil gearbeitet“, sagt sie. Auch an der Schulstraße in herne-Mitte gab es immer wieder Kinder, die erst die Sprache lernen mussten. „Da habe ich genauso gearbeitet.“ Sogar ihre beiden Stoff-Figuren, den orangenen Hund Fu und seine Freundin Fara, die beim Leselernen helfen, hat sie mitgebracht. Spezielle Lehrwerke zu „Deutsch als Zweitsprache“ ergänzen das eigene Material und den bewährten Methodenmix. Kunst spielt eine große Rolle, Lieder und alles, was der Seele gut tut - Blumen, Steine und viele Bilder im Klassenraum, der früher mal eine Schulküche war.
Was sie mit den Kindern im letzten Jahr erlebt hat, hat Barbara Skratek bewegt. „Ich hatte so eine nette Klasse, dass ich eigentlich ein Buch darüber schreiben wollte.“ In den Sommerferien hat sie sich hingesetzt und geschrieben - aus der Perspektive eines syrischen Jungen, Delovan, „weil der mir so am Herzen lag“. Delovan ist inzwischen zu einer anderen Schule gewechselt, und nicht alles, was seine frühere Lehrerin niedergeschrieben hat, hat er 1:1 so erlebt. Auch andere Kinder finden sich in der literarisch verdichteten Figur wieder.
Anrührender Miniaturen
Ein Buch ist aus Delovans Erlebnissen in der deutschen Schule (noch) nicht geworden, wohl aber eine Sammlung anrührender Miniaturen rund um die vielen neuen Dinge, die ein syrischer Junge im deutschen Schulsystem erlebt. Nachfolgend der komplette Text von Barbara Skratek.
Willkommen und aufgegangen: Barbara Skratek schreibt über die Erlebnisse von Delovan
Meine Lehrerin und ich
Ich heiße Delovan. Ich bin zehn Jahre alt und komme aus Syrien. Vor eineinhalb Jahren kam ich in eine Auffangklasse im Ruhrgebiet. Am ersten Schultag gingen mein Vater und ich mit klopfendem Herzen in die Schule. Meine Lehrerin lachte uns beide an. Sie schenkte mir einen Tornister mit Dinosauriern darauf – gebraucht. Ein deutsches Kind hatte ihn vier Jahre getragen und dann gespendet. Für mich. Ich trug ein Stück Deutschland auf dem Rücken.
Höckerchen
Klar, ein paar deutsche Wörter kannte ich. Was man so braucht. Aber mein erstes richtiges deutsches Wort war „Höckerchen“. Lacht nicht! Echt schwierig auszusprechen für unsereins, aber von der Lautstruktur her enorm einprägend, vielleicht sogar aufregend. Diese Sitzgelegenheit eines bekannten schwedischen Möbelhauses war mein ständiger Begleiter im Unterricht. Variabel wurden die kleinen Vierbeiner im Sinne des „class-room-management“ von meiner Lehrerin ständig hin- und herdirigiert. Wir residierten nämlich (bis heute noch) in der ehemaligen Schulküche. Irgendwie musste uns die Schulleitung ja unterbekommen.
Es gab keine Schülerbänke und nur große Konferenzstühle und -tische.
Daran hatte Frau Merkel nicht gedacht, an so einen Schnick-Schnack, als sie sagte: Wir schaffen das! Sie dachte: Ihr werdet es schon schaffen. Alles abgeladen bei der Fantasie meiner Lehrerin, bei den Schulleitungen im Land, den kommunalen Behörden. Da waren die Höckerchen eine Super-Lösung. Wir sind schon voll drauf und improvisieren, wenn das Schulmaterial an allen Ecken und Kanten fehlt. Trotzdem: Wer Qualität will, muss Qualität bezahlen.
Das dauert wohl noch.
Willkommen
Irgendwann in meinem ersten Jahr wurde aus meiner Auffangklasse eine Willkommensklasse. Ich habe das gar nicht gemerkt. Alles war so wie immer. Aber was weiß ein zehnjähriger unbedarfter syrischer Junge schon von semantisch evaluierter, politisch-zeitorientiert-gewollter Bildungssprache? Im September 2015 war alles auf einmal anders.
Jetzt bin ich aufgefangen und willkommen.
Kunst
Das ist doch schon mal gut. Bei meiner Lehrerin musste ich viel lernen. Gut, dass sie zeichnen konnte. Wenn uns die deutschen Wörter fehlten, malte sie Bilder an die Tafel und schrieb die Wörter dazu. Allah sei Dank, dass ich schon die deutsche Druckschrift schreiben konnte und in Syrien schon in der Schule war. Wie schwer ist es für Kinder, die weder lesen noch schreiben können, egal in welcher Schrift und Sprache.
Auf meine Lehrerin kommt noch einiges zu.
Bewegung
Aber wir schaffen es ja, und wir sind aufgefangen und willkommen. Wie gesagt: Ich musste immer lernen, und ich wollte es so sehr. Meine Lehrerin sagte: Lernen braucht Bewegung. Wir mussten uns beim Deutschlernen bewegen. Ich sag euch ein Beispiel: Lieder lernen. Zuerst besprachen wir den Text, bis allen alles klar war. Dann lernten wir den Text: Wir mussten auf dem Boden liegen und singen. Wir saßen auf dem Tisch und sangen. Wir krabbelten unter den Tisch und schmetterten: „Der Kuckuck und der Esel“. Wir stellten uns auf die Tische und sangen: „Kuckuck, Ia, Ia“. Das war immer lustig und leicht zu lernen. Wir sangen im Schneidersitz. Mein absoluter Hit war ein Weihnachtslied. „Er macht eine Schlittenfahrt, so lang ist sein weißer Bart, ho, ho, ho“. Wir machten dazu die Bewegungen und – ruckzuck – konnte es wirklich jedes Kind. Beim Konjugieren musste ich mich beugen: Ich gehe - beugen. Er geht – beugen. Sie geht – beugen. Es geht – beugen. Wir gehen – beugen.
So lernte ich leicht und gern Deutsch.
Gedichte
Mein Lieblingslied wurde nur noch getoppt durch das Gedicht von Christian Morgenstern „Die drei Spatzen“. Da wurden aus dem Erich, dem Hans und dem Franz die Tamara, die Valentina und der Mohammed. Die sitzen zusammen dicht an dicht, und so warm wie Valentina hat`s niemand nicht. Und wenn das Herzlein pocht, das hat meine Lehrerin mir erklärt, das wussten wir alle.
Unser Herzlein klopfte stark und oft bei der Flucht nach Deutschland.
Suchen
Wenn meine Lehrerin ihren Schlüssel suchte, was mehrfach jeden Tag vorkam, rief sie den heiligen Antonius zu Hilfe. Den kannte ich schon mal gar nicht. Aber er wurde mir in meiner Zeit mir ihr ein liebevoller Vertrauter. Ich lernte aufgrund ihres Hilferufes: „ Heiliger Antonius, wo ist mein Schlüssel, verflixt?“ die Fragestellung mit „ wo“, das Wort „Schlüssel“ und den wunderbaren Ausruf „ verflixt“.
Wenn der Satz fiel, schwärmte ein Suchkommando aus und in Windeseile wurde das wichtigste Utensil ganzer Lehrergenerationen strahlend meiner Lehrerin übergeben. Natürlich nur, weil der besagte Antonius leitete und führte. Wir wurden zu Findefüchsen.
Das war lebendige Umgangssprache in konkreten Situationen.
Heilige
Besonders in der dunklen Jahreszeit war ich von Heiligen umzingelt. Die gibt es ja massenweise in Deutschland. Ich lernte den heiligen Martin kennen (oder war er nur Sankt?), dicht gefolgt vom heiligen Nikolaus, dem heiligen Josef mit seiner heiligen Frau Maria. In der Krippe liegt immer Jesus und der ist auch heilig. Es gibt den heiligen Sylvester und zum guten Schluss noch die drei heiligen Könige. Die waren mir am liebsten und ich behielt ihre Namen für immer. Oh, nicht zu vergessen die heilige Barbara, denn so heißt meine Lehrerin mit Vornamen. Vielleicht gibt es den heiligen Delovan auch, nur ich weiß es noch nicht. Zum Jahresabschluss gingen alle aus unserer Schule in eine Kirche. Ein bisschen konnte ich schon mitsingen. Das hatte ich beim Adventssingen auf der Schultreppe schon probiert. So wurde ich vertraut gemacht mit deutschem Brauchtum, Feiern und vielen, vielen neuen Wörtern und Formulierungen.
Halleluja und Gloria, welch herrliche Jubel.
Strenge
Meine Lehrerin war lustig und manchmal streng. Sie konnte leise und laut reden und auch schimpfen. Aber nichts im Vergleich zu syrischen Schulen. Dort wird noch geschlagen, selbst wenn man kaum etwas gemacht hat. Das erzählte ich unserer Lehrerin und die Kinder aus Albanien und Bulgarien konnten viele entwürdigende Strafmaßnahmen auch ausführlich zu beschreiben. Meine Lehrerin erklärte uns immer, warum sie sauer war, manchmal mit „Händen und Füßen.“ Ich verstand sie und die anderen auch, denn:
Auf die Beziehung kommt es an.
Die war wirklich liebevoll und auf jedes Kind persönlich abgestimmt. Trotzdem trieben wir es auch manchmal auf die Spitze und dann war „Schluss mit lustig!“ Aber, wer wollte in dem deutschen pädagogischen Freiraum nicht einmal die Grenzen austesten.
Kosenamen
Manchmal musste ich während der Unterrichtszeit träumen und meinen Gedanken nachhängen. Dann war ich langsam beim Schreiben und Rechnen. Meine Lehrerin rief: „ Delovan, komm in die Pötte!“ In der Anfangszeit ging das gar nicht. Dann setzte sie sich an meinen Tisch, legte mir die Hand auf die Schulter und murmelte: „Ach, Delovanchen.“ Ich konnte sie verstehen und fühlte mich angenommen. Ich war ja aufgefangen und willkommen. Unsere Herzen schlugen im gleichen Takt.
Ziemlich schnell brachte meine Lehrerin uns bei, dass -chen und -lein nicht nur alles klein machen, sondern auch ein Zeichen von Zärtlichkeit sind. Wir übten uns mit allen Namen, die wir wussten, und hatten auf einmal in der Klasse Stelinachen, Benitachen, Adamchen, Jakubchen usw. Das hat uns allen sehr gut gefallen. Und wenn sie wieder ihren Schlüssel suchte, unsere Chefin, dann ertönte der Chor aus dem Hintergrund: „ Ach, Frau Skratekchen!“ und der Suchtrupp lief los.
Herzensführung ist unabdingbares Lernziel.
Essen
Ich hatte meine Probleme mit meiner Lehrerin in puncto: gesundes Essen. Obst und Gemüse ging ja noch. Wir kochten Gemüsesuppe und schnibbelten Obstsalat. Aber mit dem Brot war das so eine Sache. „Körnerbrot und -brötchen sind gesund und nahrhaft“, sagte meine Lehrerin. Sie brachte alles zum Probieren mit. Benita schüttelte sich schon und meinte: „ Ich hasse Körner!“ Wir aus Syrien lieben unsere süßen dünnen Fladenbrotwraps (Nans). Alle anderen essen auch weißen Toast. Der ist billig.
Ich wollte meiner Lehrerin einen Gefallen tun, weil ich sie mochte, und sie gut zu mir war. Leider missverstanden wir uns, da ich noch nicht so viel Deutsch konnte. Ich verstand nur „Brötchen.“ Meine Eltern kauften mir Aufbackbrötchen, von denen ich zwei, unaufgebacken, in einigen Frühstückspausen verzehrte. Geschmeckt hat es nicht.
Aber was tut man nicht alles, um sich zu integrieren.
Meine Lehrerin war schier entsetzt. Ich konnte es fühlen. Wir redeten lange. Jetzt esse ich wieder mein syrisches Frühstück, aber doppelte Portion und eine Banane ist auch dabei. Ich durfte wieder so essen wie ich es gelernt habe – nur ein klein wenig anders – mit Gurke oder Tomate dazu.
Eier
Aber ich weiß heute alles über Eier und Hühner. Aufgrund unserer kleinen Experimente kann ich rohe Eier und gekochte Eier im Schlaf auseinander halten. Und Rührei liebe ich, trotz der zusätzlichen Verkostung von „1000“ Brotsorten. Nun ja, das Sendungsbewusstsein meiner Lehrerin schlägt immer noch mal durch. Sie kann auch nicht aus ihrer Haut. Aber immerhin nehme ich jetzt viel, viel mehr zu essen und zu trinken mit, denn ich gehe in Mathematik und in Sport in eine Regelklasse. Da brauche ich Energie. Ich hatte auch vorher wirklich immer Hunger.
Essen ist ein kulturelles Gut und Heimat und hat große Identitätsbedeutung.
Kunst
Meine Lehrerin ist eine Künstlerin. Sie wechselte meine schlechten Buntstifte gegen qualitativ gute aus. Da konnte ich auf einmal besser malen. Sie schrieb Spendenaufrufe und organisierte, auch mit Hilfe der Schulleitung, des Fördervereins und anderen Organisationen immer das beste Material, damit wir in Farben schwelgen konnten. Sie nahm uns die Angst vor der Farbe, dem Papier und vor unserem vermeintlichen Nichtkönnen. In Syrien haben wir kaum Kunstunterricht gehabt und so, wie bei meiner Lehrerin schon gar nicht. Ich habe unzählige Wörter und Sätze in meinen Kunstunterricht gelernt. Für die figurale Darstellung benötigte ich das Wissen über die Körperteile, malte ich Landschaften, lernte ich deutsche Wörter wie Fluss, Bach, Berg, Strauch, Busch, Straße oder Feld. Mittlerweile kenne ich Tulpen, Sonnenblumen und Schneeglöckchen. Die kann ich alle malen. Das habe ich gar nicht gewusst.
Es war auf einmal so leicht.
Wir malten mit Fingern, mit Pinseln aller Art, mit Pastellfarben, mit Gouachefarben, mit Ölkreiden. Wir schnitten Dreiecke, Quadrate und Kreise. Einmal „malten“ wir mit der Schere Bilder, die ein gewisser Herr Matisse erfunden hatte. Ich unterschrieb mit Delovan Matisse. Vielleicht werde ich später mal Künstler.
Oscar Wilde
Zum Schluss meiner Zeit in der Auffangklasse, als wir alle schon viel Deutsch gelernt hatten, las meine Lehrerin uns die Bilderbuchgeschichte von Oscar Wilde vor: Der glückliche Prinz. Das ist ein trauriges Buch, denn am Ende stirbt die kleine Schwalbe und der glückliche Prinz wird vom Sockel gestoßen. Als meine Lehrerin das Buch zuklappte, waren wir ganz still, heilige Stille! Hava sagte: „Die tote Schwalbe und das gebrochene Herz des glücklichen Prinzen liebt Gott sehr. Darum hat der Engel sie zu Gott gebracht.“ Wir verstanden das ohne viel zu reden. Wir fühlten in einer gemeinsamen feinen Seelenschwingung über alle Grenzen hinweg. Wir malten dazu mit Pastellkreiden, leicht und zart. Es war ein wunderbares Bilderbuch.
Es war egal, ob wir Muslime oder Christen sind.
Abschied
Ich verlasse meine Lehrerin und meine erste deutsche Schule jetzt zum Ende des Schuljahres 2016. Wir haben eine neue Wohnung bekommen. Meine Schwester kommt in ein wohnortnahes erstes Schuljahr. Ich muss auf sie aufpassen. Darum wechsele ich in die 4. Regelklasse ihrer Schule. Wir müssen uns trennen, meine erste deutsche Lehrerin und ich. Zum Schluss umarmten wir uns feste. Sie hatte mich aufgefangen. Bei ihr war ich willkommen. Keiner von uns hat geweint.
Unsere Herzen waren schwer wie eine Quarkschüssel.