Herne. . Gabriele Awiszio leitet seit 1996 die integrative Lebenshilfe-Kita. Als noch niemand den Begriff „Inklusion“ kannte, fing „Phantasia“ damit an.

  • In der Lebenshilfe-Kita am Herner Stadtgarten spielen 108 Kinder mit und ohne Behinderung
  • Die Kindertageseinrichtung wurde Ende 1996 als eine der ersten integrativen Kitas eröffnet
  • Gabriele Awiszio (57) hat den integrativen Kindergarten damals als Leiterin mit aufgebaut

Kinder mit und ohne Behinderungen spielen und lernen zusammen: Diese Utopie setzte die Lebenshilfe in Herne vor 20 Jahren das erste Mal um. Die Kindertagesstätten „Regenbogenland“ und „Phantasia“ wurden Ende 1996 als die ersten integrativen Kitas eröffnet. Gabriele Awiszio hat die Kita „Phantasia“ am Juri-Gerus-Weg von Beginn an geleitet. Anlässlich des Geburtstages blickte WAZ-Redakteurin Ute Eickenbusch mit ihr zurück und nach vorne.

Frau Awiszio, als Sie hier angefangen haben, war das Wort „Inklusion“ noch nicht erfunden. Empfinden Sie sich als Vorreiter?

Awiszio: Ja, auf jeden Fall. Das war damals schon ein Novum, dass die Stadt Herne gesagt hat: „Wir bauen die integrativen Schwerpunkteinrichtungen.“ Natürlich auch, weil wir als Lebenshilfe viele Kindergartenplätze geschaffen haben! Im Gegenzug wurden „Sondereinrichtungen“ wie der Kindergarten an der Bergstraße aufgelöst.

Wie kam es zur Zusammenarbeit Stadt-Lebenshilfe?

Die Lebenshilfe wurde von der Stadt gefragt als Träger. Unser Leitbild ist die Teilhabe, früher die klassische Behindertenarbeit, da war das eine logische Konsequenz, dass wir die Schwerpunkteinrichtungen als Träger übernommen haben. Wir hatten auch schon die Heilpädagogische Fachberatung am Nachtigallenweg, die habe ich 1990 mit aufgebaut.

Hatten Sie gleich genug interessierte Eltern?

Als die Einrichtung gebaut wurde, gab es genug Eltern. Wir hatten vor 1996 die schwerbehinderten und körperbehindertem Kinder nach Bochum vermittelt und 16 Plätze in der Sondereinrichtung an der Bergstraße, so dass wir innerhalb von vier Monaten voll waren. Dadurch, dass die Frühförderung in der Trägerschaft der Lebenshilfe ist, kamen automatisch Kinder mit Förderbedarf in einer unserer Einrichtungen an.

Fanden auch Eltern mit Kindern ohne Behinderung das Modell gut?

Das war vielen Eltern erst mal nicht so klar - die brauchten einen Kindergartenplatz! Am Anfang war das für manche Eltern ein bisschen befremdlich, denn wir hatten alle Arten der Behinderung, auch schwerstmehrfachbehinderte Kinder und solche mit „besonders herausforderndem Verhalten“, wie man das heute nennt. Ich glaube aber zumindest, dass wir keine Abmeldung deshalb bekommen haben. Aber das weiß man nie, weil niemand das offiziell gesagt hätte.

Aber es gab auch Familien, die gezielt kamen?

Es gab immer auch welche, die bewusst den Weg gewählt haben. Aber das wäre nicht mal so sehr im Sinne der Teilhabe. Es gehört halt dazu und fertig. Die Kinder sagen oft: Wir haben keine behinderten Kinder! Die kennen das Kind und der ist so, wie er ist.

Gab es Startschwierigkeiten?

Die größte Herausforderung war, von Anfang an ein 17-köpfiges Team zu haben, innerhalb von drei Monaten 110 Kinder zu betreuen und nur wenige bis kaum Erfahrungen zu haben. Ich hatte die längste Berufserfahrung, meine Stellvertreterin hatte auch Erfahrung. Die Heilpädagogen waren zu 90 Prozent Berufsanfänger, und die Erzieherinnen kannten in der Regel nur die Einzelintegration. Die ersten Monate waren deshalb für alle sehr anstrengend. Für Schulungen hatten wir nicht die finanziellen Mittel und die Zeit. Das Haus war ganz gut darauf eingerichtet, aber bis sich das Team und die pädagogische Grundrichtung gefunden hatten, gab es viele Unsicherheiten. Das hat sich erst nach einem halben Jahr eingespielt.

Gibt es Kinder, die Sie nicht betreuen können?

Wir haben in 20 Jahren noch kein Kind abgelehnt. Wir schauen, was wir leisten können, und ansonsten muss der Kostenträger dafür Sorge tragen, dass wir das irgendwie hinkriegen. Häufig denkt man anfangs, das geht nicht, und dann geht es sehr gut, oder umgekehrt, z.B. bei Kindern aus dem Autismus-Spektrum, bei denen man das anfangs nicht so merkt, und wir dann einen hohen Betreuungsaufwand haben, da muss man gucken, welche Unterstützung es gibt, etwa über Fachkraftstunden. Wir haben mittlerweile auch FSJ-Stellen. Bei uns gibt es jede Art der Behinderung: Blinde Kinder, Schwerstmehrfachbehinderte, das Autismus-Spektrum, hörgeschädigte und gehörlose Kinder, Rollifahrer ...

Inzwischen arbeiten viele Kindergärten inklusiv. Haben die dasselbe Know-how?

Wir haben, obwohl mit dem Kibiz 2009 die Schwerpunkteinrichtungen abgeschafft wurden, alle Standards halten können. Jede Gruppe hat eine Heilpädagogin, wir haben eine Motopädin in jedem Haus und holen uns Therapeuten ins Haus, haben also einen festen Therapeutenpool und dadurch eine hohe Konstanz. Was den Zulauf angeht, so müssen wir schon ein bisschen kämpfen, wenn wir sagen: „Wir halten die Plätze vor für behinderte Kinder und besetzen die nicht einfach mit nicht behinderten.“ Schwierig wird es mit den U3-Kindern: Die Kinder kommen immer früher in die Einrichtungen. Wenn sie in Regeleinrichtungen auffällig werden, kommen sie nicht mehr zu uns. Wir kriegen momentan noch alle Plätze voll, machen aber auch schon Werbung, dass wir an manchen Stellen noch etwas anderes bieten können. Vereinzelt kommen auch Rückläufer, wo andere Einrichtungen etwas überfordert sind.

Wie gut klappt der Übergang in die Grundschulen?

Sehr unterschiedlich. Die Heilpädagogen schauen mit den Eltern nach der sinnvollen Schulform, welche Kinder gut im Gemeinsamen Unterricht betreut werden können und für welche das doch zu viel ist. Wir haben dieses Jahr wieder Kinder im gemeinsamen Unterricht untergebracht, es gibt aber auch Kinder, für die die Eltern die Förderschule vorziehen. Die Plätze werden weniger, aber wir werden nicht ganz auf die Förderschulen verzichten können. Rein körperlich behinderte Kinder kommen mittlerweile immer im GU zurecht, auch Kinder mit geistiger Retardierung, da kommt es auf den Grad an, das geht auch ein paar Jahre. Bei Sinnesschädigung ist es schon unterschiedlich. Oft beginnen die Kinder im Gemeinsamen Unterricht und wechseln dann in der zweiten Klasse.

Wie geht es weiter mit der Inklusion - im Kindergarten und in der Gesellschaft? Sind wir auf einem guten Weg?

Der Kindergartenbereich ist eigentlich von jeher am weitesten, seit den 80er-Jahren. Im Schulbereich sind wir noch relativ weit von der Inklusion entfernt, weil wir dafür eine grundlegende Reform bräuchten. Die wird es aber aus Kostengründen und aus ideologischen und parteipolitischen Gründen nicht geben. Es werden immer Kinder bleiben, die es nicht schaffen, und es ist in den Grundschulen immer von der Wertschätzung, dem „good will“ und den Fähigkeiten einzelner abhängig, dass es gelingt. Im Vergleich zu Anfang den 90er-Jahren sind wir da viel weiter - früher hat man es noch schwer Klassen zu finden, die zum Beispiel ein „Rolli-Kind aufgenommenhaben - aber ich glaube, eine Auflösung der Förderschulen werden wir nicht hinkriegen. Und die Frage ist auch, ob man Förderschulen auflöst, oder ob man nicht zumindest noch Förderklassen irgendwo einrichtet. Wenn Sie einen schwerstmehrfachbehinderten Zehnjährigen haben, der nur liegen kann, der gefüttert und vielleicht sondiert werden muss, wie wollen Sie das machen in einer Klasse mit 25 Kindern? Ich muss die Teilhabe da hinkriegen, wo es möglich ist.