Dr. Rainer Wirth ist neuer Leiter der Klinik für Altersmedizin und Frührehabilitation im Herner Marien Hospital. Das sind seine Ziele.

Die Klinik für Altersmedizin und Frührehabilitation im Marien Hospital in Herne wird nun von Privatdozent Dr. Rainer Wirth geleitet. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann erläutert er das Spektrum der Klinik und die Besonderheiten bei der Behandlung von alten Menschen.

Geriatrie ist vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung eine immer wichtigere Disziplin. Wie hat sich die Altersmedizin in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?

Wirth: Den Startschuss für eine spezialisierte Altersmedizin hat es in den 40er-Jahren in England gegeben. Eine Chirurgin bekam den Auftrag, ein Mittelding aus Altersheim und Krankenhaus zu betreuen. Sie hat unter ihren Patienten viele entdeckt, die eigentlich noch viel selbstständiger hätten sein können, wenn man sie entsprechend gefördert hätte. Daraus hat sie ein Therapiekonzept entwickelt, was dem heutigen relativ ähnlich ist. Sie hat es damals geschafft, ganz viele Menschen wieder in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen. In Deutschland hat es länger gedauert, bis man sich um die betagten Menschen gekümmert hat. Das ist erst in der Nachkriegszeit ganz langsam losgegangen. Deshalb gibt es in Deutschland bislang nur acht Lehrstühle für Altersmedizin.

Was sind die Erkenntnisse der jüngeren Vergangenheit?

Sport und Fitness spielen zum Beispiel eine große Rolle, sowohl in der Vorbeugung als auch in der Therapie. Wir wissen, dass alte Menschen durch mehrere Faktoren erheblich Muskulatur verlieren. Das kann im Krankheitsfall dramatisch schnell gehen. Es kann sein, dass ich einen Menschen mit Lungenentzündung erfolgreich behandele, er aber nicht zurück in seine Wohnung kann, weil er Treppen nicht mehr steigen kann. Dieses Risiko erkennt die Altersmedizin. Deshalb machen wir Untersuchungen, um zu schauen, wie schnell jemand gehen kann, welche Aktivitäten des Alltags er noch selbst vollführen kann, wo hat er Schwierigkeiten, wie groß ist das Sturzrisiko, wie ist die emotionale Befindlichkeit, wie ist die Ernährungssituation? Das findet bereits bei der Aufnahme statt. Daraus entwickeln wir ein Therapiekonzept, um den Abbau der Selbstständigkeit zu verhindern.

Was sind die Besonderheiten bei der Behandlung von alten Menschen?

Es gibt sogar Ähnlichkeiten zu der Behandlung von Kindern. Wenn ein Kind mit Bauchschmerzen kommt, können die Ursachen vielfältig sein. Wenn ein älterer Mensch mit der Verschlechterung seiner Allgemeinbefindlichkeit kommt, kann das ebenfalls viele Ursachen haben. Die Blinddarmentzündung macht nicht immer Bauchschmerzen, die Infektion im Alter führt nicht immer zu Fieber. Man muss als Altersmediziner etwas detektivisch veranlagt sein, um bei untypischen Symptomen möglichst schnell herauszufinden, was die Erkrankung ist. Das ist bei älteren Menschen ähnlich schwierig wie bei kleinen Kindern.

Welche Rolle spielt bei der Behandlung die Kooperation mit den anderen Disziplinen?

Eine sehr große. Auf der einen Seite versucht die Altersmedizin schon selbst, breit aufgestellt zu sein. Mit den häufigen Erkrankungen kennen wir uns gut aus. Doch bei etwas Speziellem, was über das Allgemeine hinaus geht, ziehen wir die Spezialisten des Marien Hospitals zu Rate. Deshalb war es auch wichtig, die Geriatrie von Börnig ins Haupthaus zu verlegen. Hier sind alle Spezialisten unter einem Dach.

Welches Spektrum deckt die Klinik für Altersmedizin am Marien Hospital ab?

Ein sehr breites. Wir haben Patienten, die nach einem Oberschenkelhalsbruch zusätzlich zum Rehabilitationsbedarf noch Schmerzen oder andere Erkrankungen haben. Wir machen die Frührehabilitation, etwa bei Menschen nach größeren chirurgischen Eingriffen. Wir bekommen viele Patienten, die wiederholt stürzen, wo der Hausarzt bei der Abklärung mit seinen Mitteln nicht weiter kommt. Es kommen Patienten mit Infektionen, mit unklarem Gewichtsverlust, mit depressiven Syndromen und Gedächtnisstörungen. Ein absolut breites Fachgebiet. Ähnlich wie bei den Kinderärzten.

n welche Richtung wollen Sie die Klinik für Altersmedizin entwickeln?

Wir werden hier meine Forschungsschwerpunkte in den klinischen Alltag implementieren, das ist im Wesentlichen das Thema Ernährung und Muskulatur im Alter. Das wird in der Therapie noch viel zu wenig berücksichtigt. Da steckt noch viel Potenzial für ältere Menschen drin, ohne dass man mit der Therapie Nebenwirkungen produziert. Außer vielleicht einen Muskelkater. Man kann zum Beispiel bestimmte Erkrankungen mit der entsprechenden Ernährung zurückschrauben. Dann bin ich Spezialist für Schluckstörungen. Da würde ich das bereits vorhandene Wissen am Haus gerne noch intensivieren. Gerade ältere Patienten haben häufig Schluckstörungen. Es gibt Patienten, die sich häufig verschlucken und deshalb Lungenentzündungen bekommen. Das lässt sich vermeiden, wenn man es früh genug entdeckt. Man muss davon ausgehen, dass 30 Prozent aller Patienten, die mit einer Lungenentzündung aus dem Altenheim kommen, eine Schluckstörung als Ursache haben. Und wenn ich denen nur ein Antibiotikum gebe und wieder nach Hause schicke, dann kommen die noch mal und noch mal und noch mal. Und irgendwann sind sie tot. Unser Ziel ist, das Risiko dort früh zu entdecken.

Jetzt haben wir so viel über alte Menschen gesprochen. Wann ist man alt, oder anders: Werden die Alten immer jünger?

Ja, dazu gibt es sogar gute Daten. Wir wollen, dass die Phase des nicht selbstständigen Lebens im Alter kürzer wird. Und sowohl wir als auch die anderen Disziplinen haben es erreicht, dass sich die Lebensspanne verlängert hat und sich die Phase der chronischen Krankheit verkürzt hat. Altern ist höchst unterschiedlich. Es gibt 80-Jährige, die verbringen auf den Bahamas einen selbstbestimmten Urlaub und es gibt 80-Jährige, die liegen hochgradig pflegebedürftig im Bett. Und dazwischen liegt die ganze Spanne. Es ist wichtig, vom kalendarischen Lebensalter wegzukommen.

>>WEITERE INFORMATIONEN:

Der gebürtige Herner Dr. Rainer Wirth ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Borken. Seit 2001 – bis zu seiner Anstellung im Marien Hospital Herne – war der Privatdozent Chefarzt der Klinik für Geriatrie am St.-Marien-Hospital Borken.

Schon früh erkannte er die Wichtigkeit der Ernährung bei alten Patienten. Seit 2013 wird Wirth regelmäßig in der Focus-Bestenliste für Ernährungsmedizin geführt. 2012 habilitierte Wirth am Erlanger Institut für Biomedizin. Mit der Leitung der Klinik für Altersmedizin und Frührehabilitation wird der Privatdozent auch den Lehrstuhl für Altersmedizin der Ruhr-Universität Bochum übernehmen.