Herne. . Auf dem heutigen Kirmesgelände stand bis 1978 das Gebäude einer Schuhfabrik. Es wurde abgerissen, um den Festplatz zu vergrößern.
Wer ist die größte im ganzen Land? Die Frage, in welcher Stadt die größte Kirmes in NRW stattfindet – in Düsseldorf oder auf Crange – erregt seit Jahrzehnten die Gemüter. Einstweilen lautet die Antwort: Crange. Wann dieser Wettstreit begonnen hat, lässt sich nicht mehr klären, allerdings führte er 1978 dazu, dass die Stadt Herne in aller Eile ein Gebäude auf dem heutigen Kirmesgelände ankaufte, um es abzureißen, um die Spitzenposition verteidigen zu können. Hartmut Seidich kann sich sehr gut an diese Zeit erinnern – denn er wohnte in jenem Gebäude...
Wer heute von der Dorstener Straße den Kirmesplatz betritt und in Richtung des Bunkers schaut, der von Helmut Bettenhausen zum Kunstobjekt geadelt wurde, ahnt nicht, dass bis 1978 dort die Glückauf-Schuhfabrik stand, die von Seidichs Vater Hugo betrieben wurde. Ursprünglich gehörte das Gebäude der Zeche Unser Fritz, die einen weiteren Schacht auf dem heutigen Kirmesplatz geplant hatte. Doch diese Pläne wurden nie umgesetzt. 1952 pachtete Hugo Seidich das stattliche Haus, zog mit der Glückauf-Schuhfabrik dort ein und produzierte Sicherheitsschuhe für den Bergbau und die Stahlindustrie.
Der Hintergrund: Nach dem 2. Weltkrieg kamen viele Kumpel mit eigenen Schuhen oder alten Soldatenstiefeln zur Schicht. Hugo Seidich entwickelte Sicherheitsschuhe, die auf den Zechen und in den Stahlwerken starken Absatz fanden. Die Fabrik gehörte in den besten Zeiten zu den modernsten ihrer Art in Europa, rund eine Millionen Paare seien auf dem Kirmesplatz produziert worden, schätzt Hartmut Seidich. 1974 musste die Fabrik schließen – eine Folge der Kohlekrise. Familie Seidich blieb in dem Gebäude wohnen – bis 1978...
...dann meldete sich die Stadt Herne bei Familie Seidich. Otto Weigel, der damalige Kirmeschef, brauchte dringend neue Flächen, um das Kirmesgelände zu vergrößern und Düsseldorf auf Abstand zu halten. Wohl wenige Menschen können sich heute noch daran erinnern, dass die Kirmes in jener Zeit etwa auf der Höhe des großen Festzelts zu Ende war. Die Stadt bot Seidichs mehrere Ersatzobjekte an, die Wahl fiel auf ein Objekt in Holsterhausen. Wie eilig es die Stadt hatte, offenbart eine Erinnerung Hartmut Seidichs: „Als im östlichen Teil des Gebäudes der Abriss schon angefangen hatte, wohnten wir noch im westlichen.“ Die Stadt konnte auf diese Weise das Fest-Areal um 10 000 Quadratmeter vergrößern und Crange seinen Titel verteidigen.
An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein, doch sie wurde sprichwörtlich im Jahr 2010 noch einmal ausgegraben. Vor sechs Jahren wollte die Stadt den Boden verdichten und war auf der Suche nach den Resten der Fabrik. Hartmut Seidich konnte dem Erkundungstrupp mit reinem Augenmaß sagen, wo er graben muss.
Die Grabungen müssen einen Hauch von Archäologie gehabt haben, denn wenig später konnte Hugo Seidich auf dem alten Fabrikfußboden laufen, selbst alte Materialreste fanden sich noch. „Das war ein komisches Gefühl, als mein Vater mit seinem Enkel, der erst 16 Jahre nach dem Abriss geboren wurde, auf dem alten Betonboden herumlief und ihm sagte, wo was stand und wo was gemacht wurde.“
Hartmut Seidich sicherte sich ein Erinnerungsstück: einen Mauerrest aus dem Eingangsportal. Das liegt nun auf dem Grundstück des heutigen Betriebs.
Obwohl es keine Spur mehr vom Gebäude gibt: Wenn Hartmut Seidich auf die Kirmes geht – ganz ohne Wehmut –, hat er immer noch eine sichtbare Erinnerung: zwei Bäume, die sein Vater für ihn und seine Schwester gepflanzt hat.