Herne. . 1966 entschied das legendäre Wembley-Tor das WM-Finale. Der damalige Torhüter Hans Tilkowski betont im WAZ-Interview erneut: „Der war nicht drin.“
Niemals wird Hans Tilkowski diese Szene vergessen. Diese 101. Spielminute am 30. Juli 1966, in London, im Wembley-Stadion, hat sein Leben geprägt. Sie geschah im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Gastgeber England und Deutschland.
Nach 90 Minuten steht es 2:2, Verlängerung. Der englische Stürmer Geoff Horst läuft auf das deutsche Tor zu, schießt. Torwart Hans Tilkowski wehrt den Ball mit den Fingerspitzen ab an die Latte. Von dort prallt das Leder auf die Torlinie und zurück ins Feld. „Til“ schaut über seine linke Schulter und sieht es ganz genau: „Der ist nicht drin!“ Verteidiger Wolfgang Weber klärt zur Ecke, während Geoff Hurst jubelnd abdreht. Was dann folgt, ist Fußball-Historie. Schiedsrichter Gottfried Dienst will weiterspielen lassen, während sein Linienrichter Tofik Bachramow den Ball hinter der Torlinie gesehen haben will. Gottfried Dienst schließt sich diesem Urteil an und gibt den weltweit berühmtesten Treffer – oder Nichttreffer – der Fußball-Geschichte: das „Wembley-Tor“, so geschehen vor 50 Jahren.
Hans Tilkowski, heute 81, hat dieser Szene ein Buch gewidmet: „Und ewig fällt das Wembley-Tor“. Der 39-fache Nationalspieler lebt mit seiner Ehefrau Luise seit mehr als 60 Jahren in Herne. Immer wieder steht der Vater von drei Kindern in Interviews Rede und Antwort zu dem einen denkwürdigen Moment. Für ein Interview mit WAZ-Mitarbeiter Jochen Schübel nahm sich die Torwartlegende einen ganzen Nachmittag Zeit.
Herr Tilkowski, können Sie die Frage, ob „er drin war“, überhaupt noch hören?
Hans Tilkowski: Ach, klar. Das Tor hat Geschichte geschrieben. So etwas hat es bisher im Fußball doch noch nie gegeben.
Was passierte nach dem Tor?
Große Proteste von uns gab es nicht. Wir hatten ja noch Hoffnung auf den Ausgleich. Aber dann fiel das 4:2. Übrigens ebenfalls irregulär, denn da standen schon Zuschauer auf dem Platz, die mit den Engländern feiern wollten.
Und nach dem Spiel, in der Kabine?
Da herrschte natürlich eine große Enttäuschung. Wir fühlten uns ungerecht behandelt und haderten mit Gottfried Dienst und Tofik Bachramow. Wie ich später erfuhr, hätte der andere Linienrichter das Tor übrigens nicht gegeben. Aber der Protest blieb in der Kabine. Für dieses Fair Play wurde die ganze Mannschaft später gelobt. Der ehemalige Sportreporter Rudi Michel sprach „von einer ganz, ganz großen Haltung“, die wir zeigten. Er ging sogar so weit, uns im Auftreten mit der Weltmeister-Mannschaft von 1954 zu vergleichen. Wir waren erschöpft, geschlagen, aber stolz. Wir haben uns gut verhalten und waren nicht der schlechte Verlierer, sondern zweiter Sieger. Später wurden wir in Deutschland zur Mannschaft des Jahres 1966 gewählt. Diesen Stellenwert hatten wir uns auf und auch neben dem Platz erkämpft.
Trotzdem: Tut die Entscheidung heute noch weh?
Na klar. Auch wenn ich mich, wie gesagt, nicht als Verlierer sehe, sondern als zweiter Sieger: Ich wäre lieber Weltmeister geworden!
Gab es nach dem Finale noch Kontakt zu den Schiedsrichtern?
Mit Bachramow nicht, danach hatte ich kein Verlangen. Später habe ich mit seinem Sohn gesprochen. Mit Gottfried Dienst, der sich meiner Meinung nach in der entscheidenden Szene aus der Verantwortung gestohlen hatte, haben wir über Gerechtigkeit im Fußball diskutiert. Aber was ist schon Gerechtigkeit?
„Wembley-Tor“ oder „das „dritte Tor“: Ist es für Sie nachvollziehbar, dass Ihre Karriere oft nur auf diese einzige Szene reduziert wird?
Ich habe kein Problem damit, denn diese Szene ist nun einmal so in Erinnerung geblieben wie keine andere im Fußball. Ganz gleich, wohin ich auch komme: Die Frage, ob er drin war, warte ich nie ab, sondern sage schon vorher: Er war nicht drin! Als ich mit dem Verlag über den Titel meines Buches sprach, schlug er zehn andere vor. Ich aber wollte unbedingt „Und ewig fällt das Wembley-Tor“. Es gibt ja auch viele andere Leute, die sich mit dem Tor schmücken wollen.
Zum Beispiel?
Ich war 2006 während der WM in Deutschland bei einem Vortrag eines Physik-Professors. Er sagte, dass er berechnet habe, dass der Ball für Bruchteile von Sekunden hinter der Linie gewesen sein muss. Ich bin dann zu ihm und erklärte ihm, dass ich den Ball mit den Fingerspitzen der linken Hand an die Unterkante der Latte gelenkt habe. Da sagte er nur: Dann muss ich das wohl neu berechnen …
Ein Stück Wembley-Rasen herausgeschnitten
Waren Sie eigentlich nach 1966 jemals wieder im Londoner Wembley-Stadion?
Ja, mehrfach, Wembley war ein ganz reizvolles Stadion. Vor dem Umbau schnitten Geoff Hurst und ich ein Stück Rasen von der Torlinie aus. Ich natürlich das Stück vor, Geoff das Stück hinter der Linie. Dieses Stückchen wurde dann für 20 000 Pfund zu Gunsten der Bobby-Moore-Stiftung versteigert.
Der Mythos „Wembley-Tor“ scheint nie zu verblassen. Worauf führen Sie das zurück?
Keine andere Torszene ist so in Erinnerung geblieben wie diese. Gleichzeitig sind so viele Freundschaften dadurch entstanden. Mit meinem Freund Geoff Hurst war ich zum Beispiel beim englischen Premier in der Downing Street Nr. 10 und in verschiedenen TV-Shows. Ich war 2009 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Dort hatten sie Tofi Bachramow, der später Generalsekretär des Fußballverbandes von Aserbaidschan wurde, ein Denkmal gebaut, direkt vor dem größten Stadion des Landes. Bei einem offiziellen Empfang bedankte ich mich zuerst für die Einladung, sagt dann aber sofort: „Es war kein Tor!“
Wie sieht es heute aus? Verfolgen Sie das aktuelle Fußballgeschehen noch?
Ja. Wann immer es mir möglich ist, besuche ich die Länderspiele der deutschen Elf und die Heimspiele von Borussia Dortmund. Auch die zurückliegende Fußball-EM habe ich intensiv am Bildschirm gesehen und mich vor allem darüber gefreut, dass dort die irischen Fans für ihr vorbildliches Verhalten ausgezeichnet wurden. Die Leistungen von Wales und Island haben mich beeindruckt. Das war ein Auftreten auf und neben dem Platz, wie ich es mir wünsche.