Die 68er marschierten in die Institutionen. Linke Organisationen nahmen den Wahlkampfslogan "Mehr Demokratie wagen" ernst. CVJM entließ Diakon Rolf Schubeius nach Mammutdebatte über "Jesus People"

"Herne entbrannt". Willy Brandt vor dem Herner Rathaus im September 1969, gefilmt vom späteren Landtagsabgeordneten Frank Sichau (li.). Fots: WAZ-Archiv/Winfried Labus, pi "Ich hege keinen Groll mehr gegen irgendwen." Rolf Schubeius vor dem Herner CVJM-Heim.An der Botschaft der "Jesus-People" - hier beim Evangelischen Jugendtag 1971 - schieden sich die Geister. Hokuspokus in den Augen sozial engagierter Christen. © WAZ

WAZ-SERIE DER TRAUM VON '68Die Stadt entbrannte am 26. September 1969. 4000 Menschen kamen zum Rathausplatz, um den Kanzlerkandidaten der SPD in Herne zu erleben. "Da fehlt doch die APO" und "Die rebellische Jugend machte sich rar", kommentierte die WAZ etwas enttäuscht, und schrieb der Versammlung "den Charakter einer nicht aufregenden sozialdemokratischen Familienfeier" zu. "Mehr Demokratie wagen" war zwar nicht der Impuls der 68er, aber Willy Brandts Wahlkampfslogan goutierten auch sie. In Herne und Wanne-Eickel wurden die linken Organisationen Anknüpfungspunkte der Bewegung. "Wir marschierten 1969 geschlossen in die SPD, um die Partei von innen heraus zu verändern. Das war unser Marsch durch die Institutionen", sagt der ehemalige Schülersprecher des Otto-Hahn-Gymnasiums, Willi Klopottek.

Ein Paradebeispiel dafür, wie die 68er Institutionen veränderten, liefert der "Christlichen Verein Junger Männer" in Herne. Rolf Schubeius kam 1968 als neuer Diakon zum CVJM-Haus an der Kreuzkirche. "Mich bewegten Vietnam, anti-autoritäre Pädagogik und eine Theologie, die sich zur sozialen und politischen Verantwortung bekannte", erinnert sich Schubeius. Vorher gab es beim CVJM den Posaunenchor, die Handball-Abteilung, Bibelabende und ,nur' Männer. Dies änderte sich. Im Protokoll der Jahreshauptversammlung 1969 heißt es: "Gekennzeichnet war dieses Jahr durch ein Aufbegehren der jüngeren Generation. Im Zuge einer Demokratisierung in sämtlichen Lebensbereichen gab es auch bei uns den Wunsch nach mehr Mitbestimmung. Es kam zu Meinungsgegensätzen, sogar zur Resignation. Inzwischen bestehen diese harten Fronten nicht mehr. So ereignete sich bei uns keine Revolution, sondern eine Entwicklung."

Eine Entwicklung, bei der selbst eine Jungschar-Freizeit in Südtirol zum Experimentierfeld wurde: "Unser auf Mitbestimmung basierender Durchführungsstil hat sich bewährt", heißt es in einer Notiz. Anschließend wurde ein Elternabend durchgeführt, um "über den Stil der Freizeit, basierend auf Freiheit und Mitbestimmung, zu informieren."

Man dachte beim CVJM auch darüber nach, einen "Mädchenkreis" zu gründen, engagierte sich gegen die NPD und in der Herner Vietnam-Woche. Motor der Entwicklungen war Schubeius. "Wir machten an Heiligabend Hausbesuche bei allein stehenden Menschen. Plötzlich erkannten viele, dass es Armut auch in Herne gibt. Diese Erkenntnis und das Bekenntnis zu Jesus, der immer auf Seiten der kleinen Leute gestanden hat, verpflichteten zum gesellschaftlichen Engagement."

Die Entwicklungen weckten zugleich den Widerwillen derjenigen, denen diese Ideen nicht geheuer waren. Zur Eskalation führte der "Evangelische Jugendtag" in Herne im September 1971. Über 3000 junge Menschen versammelten sich in der Sporthalle am Westring, lauschten dem stampfenden Beat und Bekehrungsslogans. "It's a Revolution for Jesus!", propagierten amerikanische "Jesus-People" auf der Bühne, während vor und in der Halle die Proteste hoch kochten. "Show verzaubert - Analyse entzaubert" oder "Hier werden Verhältnisse verschleiert" war auf den Plakaten zu lesen. "Help, Hope und Halleluja" stand unter der Schirmherrschaft des Kreisjugendpfarrers Bernd Schlothoff. CVJM-Diakon Schubeius wollte seinen Vorstand dazu bewegen, solche platten Missionsveranstaltungen abzulehnen. Es kam zu einer dreieinhalbstündigen Mammutdiskussion im Ludwig-Steil-Haus. "Der unbefangene Zuhörer hatte den Eindruck, dass hier ein versteckter Machtkampf ausgetragen wurde", mutmaßte die WAZ. Infantiles "Jesus loves you" oder Vietnam-Solidariät?

Im CVJM-Heim kam es zum "Sit-In", auf der überfüllten Treppe wurde lautstark debattiert und am Ende bootete der Vorstand Schubeius aus. "Seine Arbeit hat einen sozialkritischen Akzent, der mit der traditionellen Zielsetzung des CVJM unvereinbar ist", lautete die Begründung für den Rauswurf. Herbert Tönnies, damals Vorstandsmitglied und später jahrelang in der Kreuzkirchengemeinde aktiv: "Es gab schon damals schlaflose Nächte, aber wir hielten es für notwendig. Es kamen aus dieser jungen Generation so viele radikale Ideen, an die wir uns erst gewöhnen mussten. Unser Vorgehen war von heute aus gesehen aber trotzdem falsch."

Die Jugendarbeit brach zusammen, mit dem Diakon verließen Wilfried Möller und viele andere des "Arbeitskreises Kritische Jugend" den Verein. CVJM-intern hatte Schubeius "Berufsverbot" erhalten: "Mein Berufsweg hat sich dadurch vollkommen verändert", sagt er und räumt selbstkritisch ein: "Ich hätte mich damals taktischer verhalten sollen." An seinem rebellischen Bekenntnis hat sich nichts geändert: "Im Alten Testament ist viel von der Befreiung aus der Sklaverei die Rede. In Nachfolge dessen besteht für mich als Christ eine Hauptaufgabe darin, dafür zu sorgen, dass die Armen und Elenden im Lande nicht arm und elend bleiben!"