. Karl-Heinz Hoffmann, Flüchtlingsreferent der Evangelischen Kirche in Herne, spricht im Interview über die Flüchtlingslage und die Situation nach Köln.
Die Flüchtlingssituation ist ein beherrschendes Thema in Deutschland, auch in Herne. Darüber sprach die WAZ mit Karl-Heinz Hoffmann, Flüchtlingsrerefent des Evangelischen Kirchenkreises.
Wie ist zurzeit die Lage in den Herner Unterkünften?
Es herrscht großer Stress unter allen Beteiligten – unter den Menschen, die dort wohnen müssen, aber auch unter denen, die dort arbeiten. Da reicht oft schon ein falsches Wort, dann schaukeln sich Konflikte schnell hoch. Übrigens nicht zwischen unterschiedlichen Volksgruppen: Die Menschen sind zum Teil traumatisiert, allein und wissen nicht, wie es weiter geht. Das ist der Konfliktstoff. Sorgen bereiten mir aber die Frauen, die alleine sind. Dass sie nachts etwa in ein Sanitätszelt gehen müssen, wenn sie die Toilette aufsuchen wollen, ist grenzwertig. Ich hoffe, dass da nichts passiert.
Zu Beginn des Flüchtlingszustroms im vergangenen Jahr gab es ein breites „Refugees Welcome“, also ein „Flüchtlinge Willkommen“ in Deutschland, auch in Herne. Kippt nun die Stimmung?
Das „Refugees Welcome“ kam ja zum großen Teil vor allem von den vielen Ehrenamtlichen. Die stehen den Flüchtlingen weiterhin sehr aufgeschlossen gegenüber. Bei vielen Bürgern sind aber durchaus diffuse Ängste aufgekommen, zuletzt auch wegen der Ereignisse in Köln. Da gibt es viele kritische Stimmen, das hört man etwa aus den Stadtteilen. Aber generell gilt für Herne: Die Stimmung ist nicht gekippt, die Menschen erkennen die Not der Kriegsflüchtlinge an – und haben Verständnis für sie. Ich hoffe, dass es so bleibt.
Seit 30 Jahren Flüchtlingsreferent
Karl-Heinz Hoffmann ist seit 30 Jahren Flüchtlingsreferent des Evangelischen Kirchenkreises Herne. Der 56-Jährige kam Ende der 1970er Jahre über den Zivildienst zum Evangelischen Kirchenkreis, er studierte anschließend Jura und Erziehungswissenschaften, bevor er 1986 seinen jetzigen Job antrat.
Pro Jahr berät der Castrop-Rauxeler rund 800 Flüchtlinge. Auch seine Familiengeschichte ist von Migration geprägt: Seine Eltern, Deutschstämmige aus Polen und der Ukraine, flüchteten 1957 nach Deutschland und kamen zunächst in einer Notunterkunft in Castrop unter.
Sie sprachen Köln an: Dass dort auch Flüchtlinge an den massiven sexuellen Übergriffen beteiligt waren, wurde zunächst nicht mitgeteilt. Gibt es in Bereichen der Gesellschaft, darunter in Teilen von Politik, Polizei, ja auch Medien, ein falsches Verständnis von politischer Korrektheit? Oder anders ausgedrückt: Sind manche „weichgespült“?
Nein, so würde ich das nicht ausdrücken. Gerade auch die seriösen Medien sind sehr bemüht, ausgewogen zu berichten. Insgesamt bleibt aber festzuhalten, dass die Integrationspolitik der vergangenen Jahre versagt hat, wenn es darum ging, negative Auswüchse zu unterbinden, etwa Bandenkriminalität. Straftaten müssen geahndet werden, und da unterscheide ich nicht zwischen Deutschen oder Flüchtlingen. Was Köln angeht, da wundere ich mich, warum die Polizei nicht mit geeigneten Mitteln versucht hat, die inakzeptablen Übergriffe zu unterbinden.
Was meinen Sie mit „geeigneten Mitteln“?
Den Platz räumen, gegebenenfalls Personen festnehmen und notfalls mit Gewalteinsatz die Menschen vor Misshandlungen oder Missbrauch schützen. Da bin ich im Kreis meiner Kollegen nicht immer mit allen einig. Es nutzt nichts, hier schön zu reden: Bei Straftaten muss man die Schuldigen ermitteln, vor Gericht stellen und gegebenenfalls verurteilen. Dafür brauchen wir keine neuen Gesetze, die geltenden Gesetze müssen nur zur Anwendung kommen.
Um Flüchtlinge dann abzuschieben?
Davor warne ich. Zurzeit ist es noch möglich, dass abgeschobene Straffällige in ihren Ländern nicht behelligt werden und dann dort ihr Unwesen treiben. Oder sie reisen dann wieder unter einem anderen Namen neu ein. Flüchtlinge, die Straftaten verüben, sollen ihre Strafe deshalb auch hier verbüßen. Genauso wie Deutsche.
Nach Köln sind Nordafrikaner in die Kritik geraten. Werden sie häufiger straffällig?
Mit Kultur hat das wenig zu tun. Ich habe ein halbes Jahr in Nordafrika verbracht, war auch im Irak und im türkischen Kurdistan. Zumindest vor dem arabischen Frühling war es dort undenkbar, dass Nordafrikaner in der Öffentlichkeit eine fremde Frau anfassen. Wenn das dort heute vorkommt, hat das eher damit zu tun, dass die Erwartungen und Hoffnungen des Arabischen Frühlings sich nicht erfüllt haben. Die Menschen sind frustriert und sehen keine Perspektive für sich. Die Sitten verrohen, im Besonderen in der Anonymität der Großstädte. Die Menschen, die hier auffällig werden, standen auch dort am Rand der Gesellschaft. Wir müssen aber auch sehr aufpassen, dass für die Taten einer kleinen Minderheit nicht die Nordafrikaner oder gar die Flüchtlinge im Allgemeinen verantwortlich gemacht werden.
Bundeskanzlerin Merkel sagte zu Beginn der Flüchtlingskrise: „Wir schaffen das“. Stimmen Sie ihr zu – mit Blick auf Herne?
Wenn wir das wollen, dann schaffen wir das. Da hat sie recht. Natürlich sind eine Million Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben, viel – zumindest im Vergleich zu fast allen anderen europäischen Ländern. Aber ich freue mich über die große Aufnahmebereitschaft. Was die finanzielle Belastung angeht, so sind das etwa 20 Euro pro Einwohner und Monat, die bringen keinen um. Schwieriger ist dagegen die Integration.
Wie kann die gelingen?
Als erstes muss es vom ersten Tag an Sprachkurse für alle diejenigen geben, die hier bleiben wollen, nicht nur für anerkannte Flüchtlinge. In diesem Zusammenhang würde ich mir wünschen, wenn jede Familie – etwa wie in Kanada – eine Partnerschaftsfamilie erhält, die sie dann begleitet und betreut. Wenn das zwei Jahre lang geschieht, sind sie praktisch integriert. Zudem muss der Familiennachzug geregelt werden, wenn Menschen getrennt sind. Das ist zurzeit nur sehr schwierig möglich. Und ganz wichtig sind natürlich Ausbildung und Arbeit – nicht zuletzt für ihr Selbstwertgefühl, denn sie wollen nicht auf Almosen angewiesen sein. Und nicht zuletzt sind sie dann auch Steuerzahler.
Aber alle Flüchtlinge werden hier doch keinen Job finden.
Nein, alle mit Sicherheit nicht, das muss man ehrlich sagen. Man muss auf den Bildungsstand schauen: Serben und Mazedonier etwa haben oft nicht mal die Gelegenheit gehabt, eine Schule zu besuchen, können also nicht lesen und schreiben, in Syrien, aber auch im Irak war der Bildungsstand der Menschen dagegen auf westlichem Niveau. Das heißt, dass nun viele gut ausgebildete Menschen zu uns kommen, darunter Akademiker. Wenn sie Deutsch gelernt haben, müssen Berufsabschlüsse anerkannt werden, und sie könnten in Berufe finden, etwa auch über Praktika. Das alles geht in der Regel nur mit einer Aufenthaltserlaubnis, und die muss schneller kommen.
Was kann man tun, damit die Menschen nicht erst zu uns flüchten?
Zurzeit sind etwa 50 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht, die meisten allerdings in den Nachbarländern, weil sie die finanziellen Möglichkeiten nicht haben, nach Europa zu gelangen. Man muss dafür zu sorgen, dass die Menschen gar nicht erst ihre Heimat verlassen müssen. Ein erster Schritt wäre ein Ausfuhrverbot von Waffen und das Ende der völkerrechtswidrigen Angriffskriege auch der westlichen Welt. Sind Kriege vorbei, dann müssen Aufbauprogramme her, so wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Dadurch motiviert man Menschen, in ihrer Heimat zu bleiben oder zurückzukehren. Und auch das ist wichtig: Wir alle müssen den fairen Handel unterstützen. Durch die westliche Subventionspolitik machen wir den Gemüsebauern und Fischern in Afrika das Wirtschaften schwer, oft unmöglich. Wenn sie faire Preise erhalten, bleiben sie auch zu Hause.
Ein Blick in die Glaskugel: Gehen die Flüchtlingszahlen bald wieder auf das Niveau von sagen wir: vor zwei, drei Jahren zurück? Oder bleibt es bei dem Zustrom, wenn auch auf niedrigem Niveau?
Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Wanderungsbewegungen. Ich denke, das wird dabei bleiben. Die Menschen gehen dahin, wo sie leben können.
Und wenn Europa seine Grenzen dicht macht?
Dann kommen weniger, aber mehr werden illegal einreisen – mit all den bekannten Gefahren, die das mit sich bringt. Klar ist aber auch: Mit Gewalt kann man Menschen nicht aufhalten.