Herne. . Das Talentkolleg Ruhr hat in Herne einen starken Start hingelegt. Das Interesse der Schüler sei groß, sagt Leiter Frank Meetz im Samstaginterview.
Im September hat das Talentkolleg Ruhr in Herne seine Arbeit aufgenommen. Es soll talentierte Schüler vor allem aus Häusern mit nicht-akademischem Hintergrund fördern. Geschäftsleiter Dr. Frank Meetz zieht im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann eine 100-Tage-Bilanz.
Herr Meetz, wie ist die Startphase des Kollegs verlaufen?
Alles andere als schleppend. Wir hatten bis zum jetzigen Zeitpunkt mit 50 Schülern geplant. Zum 3. Dezember waren es aber 151. Wir sind sehr zufrieden, der Ansatz scheint bei den Jugendlichen anzukommen. Es ist hoch interessant: Die Schüler stehen sprichwörtlich hier auf der Matte. Wir haben uns angeschaut, wo die Schüler herkommen. Sie kommen aus 17 Schulen. Aus Herne, aber auch aus der Umgebung, etwa Altenessen. Die Ansprache unserer Zielgruppe scheint unter anderem über Mund-zu-Mund-Propaganda zwischen den Schülern zu funktionieren.
Wie viele Herner Schulen nehmen teil?
Aktuell drei, die beiden Berufskollegs, und das Haranni-Gymnasium. Mit weiteren Schulen sind wir im Gespräch. Wichtig ist zu wissen, dass die Schüler hier in Herne alles aus einem Guss bekommen: Zwei feste Talentscouts gehen in die Herner Schulen und die Schüler können zusätzlich die Orientierungs- und Qualifizierungsangebote des Talentkollegs in Herne nutzen.
Wie muss man sich die Förderung konkret vorstellen?
Wenn jemand eine 4 in Deutsch hat, aber in der Oberstufe gut in Naturwissenschaften ist, kann man davon ausgehen, dass er sich mit dem Studieneinstieg selbst in den Naturwissenschaften schwer tun wird, weil die Fachsprache fehlt. Die wird er voraussichtlich bis zum Abi nicht mehr schaffen. Hier bietet unser vorziehender Ansatz in den Hauptfächern – also in Deutsch, Mathe oder Englisch - die Möglichkeit, dass der Jugendliche sich schon während der Schulzeit bessere Startbedingungen für ein Studium oder eine Berufsausbildung erarbeitet. Außerdem brauchen die Jugendlichen Beratung und Vorbilder für Ausbildungswege, und das ist der Grundansatz. Wenn jemand aus dem nicht-akademischen Bereich kommt, hat er mitunter wenige Vorbilder aus diesem Bereich und traut sich vielleicht nicht, diesen Weg einzuschlagen. Neben der Qualifizierung ist es Job des Talentkollegs, diesen jungen Menschen ein Netzwerk zu vermitteln. Eins, das sie aus dem familiären und sozialen Kontext nicht haben. Die Jugendlichen werden am Talentkolleg Ruhr auf ihrem Weg durchgängig während der Schulzeit und darüber hinaus beraten.
Ist dieser frühe Erfolg des Kollegs nicht ein Indiz dafür, dass so ein Angebot in der Bildungslandschaft gefehlt hat?
Das hoffe ich doch. Das Problem ist, dass viele Jugendliche mit der Vielfalt an Möglichkeiten bei über 340 dualen Ausbildungsberufen und über 17 000 Studiengängen allein in Deutschland überfordert sind, eine für sich passende Entscheidung für die Zeit im Anschluss an die Schullaufbahn zu treffen.
Werden sie damit alleine gelassen?
Genau das ist der Kern, obwohl es viele richtig gute Angebote für die Jugendlichen gibt. Der Ansatz des Talentkollegs ist komplementär zu diesen Angeboten zum Beispiel der Berufsorientierungsarbeit der Schulen, den Angeboten der Bundesagentur für Arbeit oder den Studienberatungen der Hochschulen unserer Region zu sehen. Es geht darum zu fragen: Wie war es bei der Studienberatung? Was haben die Dir gesagt? Wo kannst Du studieren? Die Schulen können das allein nicht leisten. Eine solche emotionale Begleitung bieten wir hier im Talentkolleg. Wir sind Emotionsarbeiter.
Wie fügt sich Herne als Standort in diesen Ansatz ein?
Wenn man sich den Bildungsbericht der Stadt anschaut, sieht man, dass bei den unter 15-Jährigen 27,6 Prozent in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben. Die These ist, dass viele Jugendliche aus prekären Verhältnissen kommen und aus Nicht-Akademiker-Familien. Auch deshalb ist Herne ein interessanter Standort, es sind einfach viele Jugendliche hier, für die das Talentkolleg interessant sein könnte. Wir haben hier in Herne top Rahmenbedingungen mit dem Gebäude. Wir fühlen uns wohl in Herne. Wir haben einen guten Kontakt zum Bildungsbüro, wir sprechen regelmäßig mit der Frau Thierhoff als zuständiger Bildungsdezernentin. Wir haben die Chance den Ansatz des Talentkollegs in vielen Zusammenhängen vorzustellen, um als Bildungspartner in der Stadt wahrgenommen zu werden.
Können sie beim Thema Flüchtlinge in Zukunft eine Rolle einnehmen?
Ja! Wir haben mit beiden Berufskollegs erste Gespräche mit Blick auf die Willkommensklassen geführt. Das Ziel: Wenn sich herausstellt, dass in den Willkommensklassen beispielsweise jemand ist, der die zweite Ableitung der quadratischen Funktion bilden kann, dann kann man davon ausgehen, dass er vorher schon mal etwas anderes gemacht hat. Für diese Leute werden wir in Zukunft ein Angebot machen. Die Lehrkräfte und Sozialarbeiter in den Willkommensklassen haben im Hinterkopf, dass das Talentkolleg für diese Gruppe zusätzlich etwas anbieten kann.
Müsste so ein Talentkolleg nicht flächendeckend in der Bildungslandschaft eingeführt werden, um viel mehr Potenzial bei jungen Menschen zu heben?
Das ist ein Pilotprojekt. Wir wollen bis 2019 sehen, was funktioniert und was die Jugendlichen annehmen. Wir haben viele Ideen. Etwa über Herner Vereine zu gehen. Da könnte man zu Bedingungen kommen, die flächendeckend und für Jugendliche auch in anderen Kommunen interessant sind.