Die Alte Druckerei wurde zum Schauplatz des politischen Diskurses, als SPD-Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering und die Journalistin Cigdem Akyol ins Gespräch kamen. Den Anstoß gab – wie stets an diesem Ort – ein Buch: Mit ihrem Titel „Generation Erdogan – wohin steuert die Türkei“ will die Türkei-Korrespondentin das Bild des machtbewussten Staatsoberhauptes um Informationen ergänzen, die nach ihrer Auffassung zu kurz kommen.

„Stimmung im Volk aufgegriffen“

Undemokratisch, konservativ und nationalistisch: Auf dieses Stereotyp von Präsident Recep Tayyip Erdogan haben sich die deutschen Medien festgelegt. Das sei nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit, erklärt die 36-jährige Akyol, die in Herne aufwuchs: Erdogan habe der Türkei politische Stabilität gebracht, in der Metropole Istanbul für eine spürbare Verbesserung des Lebensqualität gesorgt, und er habe vor allem den kleinen Leuten das Gefühl gegeben, gehört zu werden: „Er hat die Wahlen dreimal gewonnen, weil er die Stimmung im Volk aufgriff.“

Nun scheint der charismatische Politiker, selbst ein Kind der Unterschicht, diesen Bezug zum Volk zu verlieren. Ein wenig, sagt die Buchautorin mit halbem Lächeln, erinnere sie der türkische Staatspräsident an den Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum Regieren nicht mehr als „Bild, BamS und Glotze“ brauchen wollte. Diesen Vergleich findet SPD-Frau Michelle Müntefering abwegig, was wenig überrascht. Im übrigen liegen die beiden Frauen auf dem Podium in ihren Einschätzungen oft auf einer Linie. Mit der Türkei und Erdogan setzt sich die Herner Politikerin seit Jahren auseinander. Auch an den Fragen der Zuhörer wird ablesbar, dass ihnen die vielschichtige Thematik vertraut ist.

Die Verluste für Erdogans Partei AKP bei den Wahlen im Juni, der Einzug der pro-kurdischen HDP in das Parlament in Ankara und die Aussetzung des Friedensprozesses mit den Kurden setzen das Land extrem unter Druck, berichtet Buchautorin Akyol, die seit 2014 in Istanbul lebt. Die Stimmung sei aufgeheizt, Schießereien keine Seltenheit, „das passiert gefühlt den ganzen Tag“.

Von den bevorstehenden Neuwahlen verspricht sich Erdogan Zugewinne für seine AKP. Akyol hingegen beurteilt die Erfolgschancen skeptisch, trotz Erdogan-höriger Presse und befürchteten Wahlmanipulation. Es geht auch anders, und wie es gehen kann, habe sich bei der Juni-Abstimmung gezeigt: „Die Türken haben bei den Wahlen eine demokratische Glanzleistung abgeliefert.“