Herne. . Helmut Seidich und sein Familienbetrieb sind Meister eines selten gewordenen Handwerks: Das Unternehmen fertigt Schäfte für orthopädische Anwendungen.

Es war nicht beabsichtigt, doch das Timing passt genau: Wenn in diesen Tagen die Karussells, Losbuden und Bierstände auf der Cranger Kirmes aufgebaut werden, dann hat Hartmut Seidich einen besonderen Blick auf das Volksfest. Der Grund: Bis 1978 lebte er auf dem heutigen Kirmesgelände. Denn dort hatte sein Vater die „Glückauf Schuhfabrik“ gegründet. Über eine Million Sicherheitsschuhe für Berg- und Stahlarbeiter produzierte die Fabrik von 1952 bis 1974. Vier Jahre später wurde sie abgerissen. In aller Eile, so hat es Seidich in Erinnerung. Der Grund sei gewesen, dass die Stadt Herne unbedingt zusätzliche Flächen für die Kirmes benötigte, um weiter das Prädikat „größtes Volksfest in NRW“ tragen zu dürfen. Das Duell mit Düsseldorf lief offenbar auch damals schon.

Die Stadt bot Seidichs Vater mehrere Objekte als Ersatz an. Er entschied sich - und damit sind wir wieder an der Schirrmannstraße - für das ehemalige Obdachlosenasyl der Stadt. Geht man heute durch die Räumlichkeiten, lassen sich - mit Seidichs Hilfe - noch einige Details der früheren Nutzung erkennen.

Maßschuhe für finanzstarke Kunden

Heute ist das Gebäude Standort für absolute Spezialisten. Hartmut Seidich und sein Familienbetrieb über das Handwerk des Schäftemachens aus. Damit ist er fast der letzte seiner Art. Nicht in Herne, sondern weit darüber hinaus. Schäfte, das sind die sichtbaren Oberteile eines Schuhs. Seidich hat sich auf orthopädische Versorgungen spezialisiert, zum Beispiel versteifte Gelenke, Amputationen, Lähmungen oder Gefäßkrankheiten, die zu Missbildungen an den Füßen führen können.

Bei diesem echten Handwerk - es kommen lediglich Nähmaschinen zum Einsatz - zählt jeder Millimeter. Die Kunst eines Schäftemachers liegt darin, eine dreidimensionale Kopie des Fußes, die er vom Orthopädieschuhmacher erhält, in ein Schnittmuster umzusetzen. Seidich muss quasi von 3D zurück auf 1D denken, um den Schaft zu nähen. Dabei spielen Details wie die Dicke der Polsterung oder Einbauelemente eine wichtige Rolle und wollen mitbedacht sein. „Das Schnittmuster ist das Fundament. Wenn das den geringsten Fehler aufweist, passt am Ende der ganze Schuh nicht.

Zwar sind 90 Prozent der Arbeiten aus dem Hause Seidich orthopädische Anwendungen, doch er ist auch in der Lage, Maßschuhe für eine finanzstarke Kundschaft anzufertigen. Die kommt auch aus Hollywood oder Dubai. Darüber hinaus hat er vor einiger Zeit begonnen, Lauflernschuhe für Kleinkinder auf Bestellung herzustellen. Nur mit Naturmaterialien. Denn eins macht Seidich bei seiner Arbeit nicht: Kompromisse.