Heiligenhaus. . Organisation ist alles: Zum „Tag des weißen Stocks“ berichtet die sehbehinderte Gisela Theuergarten über ein Leben mit vielen kleinen Helfern.

Dass Baumrinde braun ist und Dachziegel meistens rot sind, wissen wir. Sofort ploppt eine schillernde Welt voller Farben vor dem geistigen Auge auf. Gisela Theuergarten weiß zwar auch, dass Baumrinde braun ist, nur hat sie keine Vorstellung davon, wie die Farbe aussieht. Die Heiligenhauserin leidet schon seit ihrer Kindheit an einer Farbenblindheit (Achromatopsie), gepaart mit dem grauen Star und einer extremen Sehschwäche, erkennt die 73-Jährige nur noch schemenhaft ihre Umgebung. Mit welchen Tricks sie trotzdem den Alltag meistert, zeigt Theuergarten in ihrer Wohnung.

Diese ist durchorganisiert bis in die letzte Ecke. Anders ginge das gar nicht. Die 73-Jährige nimmt ihr Umfeld nur noch schemenhaft wahr, sieht Umrisse oder schwarz-weiß Abstufungen. Gästen bietet die Heiligenhauserin gerne einen Kaffee an, und einen routinierten Handgriff später steht auch schon die Tasse unter der Maschine. „Jedes Teil hat seinen festen Platz im Schrank. Wenn jemand umräumen würde, müsste ich erst lange suchen, um es zu finden.“ Wie viel Wasser in den Tank des Automaten gefüllt werden muss, hat sie im Gefühl, und wo die Tasse hin muss, damit nicht alles daneben läuft, auch.

Schwieriger wird es, wenn Gisela Theuergarten an ihren Kleiderschrank geht. Normal Sehende greifen einfach rein und ziehen sich in Windeseile farblich passende Sachen raus. In den Augen der Heiligenhauserin besteht das Repertoire ihres Kleiderschrankes allerdings nur aus verschiedenen Graustufen und Schwarz. Um nicht mit einer gelben Hose und einem roten Pullover aus dem Haus zu gehen, hat sie im Laufe der Zeit ein System entwickelt und sogar etwas, von dem viele Frauen träumen: einen tragbaren Modeberater.

„So ganz kann ich mich aber auch nicht verlassen“, sagt Theuergarten und hält den kleinen schwarzen Apparat an ihren Pullover. „Dunkles Lila“ dröhnt eine Computerstimme plötzlich aus der Kiste. Stimmt. Bei den beigefarbenen Socken liegt der elektrische Modeberater allerdings mit Khaki grün ziemlich daneben. „Aber dafür habe ich sehr aufmerksame Kinder, die mir helfen, Sachen rauszusuchen, die ich dann auswendig lernen und zusammen anziehen kann.“

Probleme bekommt die 73-Jährige, wenn sie vor die Haustür geht und die Sonne scheint. Dann erkennen ihre Augen gar nichts mehr und sie tappt völlig im Dunkeln. Das sei wirklich schlimm, weil sie sich auch nicht auf ihre Ohren verlassen könne. Mit zwei Hörgeräten ausgestattet, versteht sie nur etwas, wenn direkt neben ihr gesprochen wird. Als es die surrenden Blindenampeln noch nicht gab, musste sie den Verkehr am Lichtzeichen jedoch mit dem Gehör einschätzen. „Ich bin dann immer so gut acht Meter von der Ampel weggegangen und habe gelauscht, wann die Autos stehengeblieben sind. Heute ist das leichter“, findet Theuergarten. An Treppenstufen wie denen an der öffentlichen Toilette in Rathausnähe benutzt sie ihre Fußsohlen, um sich zu orientieren. Kurz bevor die Stufe abknickt, kommt nämlich ein kleines geriffeltes Stück. Ein auslaufendes Geländer zeigt an, dass der Treppenbenutzer unten angekommen ist.

An der Supermarktkasse hat die Heiligenhauserin allerdings einen Vorteil. Während andere Menschen in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld kramen, zückt Theuergarten kurzerhand so viele Fünf- Euroscheine, wie sie braucht und verlässt mit dem Rückgeld in der Tasche den Laden. „Ich habe nur Fünfer und in zwei getrennten Fächern Ein- und Zwei-Euro-Stücke. Mit Kleingeld halte ich mich nicht auf.“ Das landet, mit Fingerspitzengefühl nach Randriffelung sortiert, in einem großen Glas und irgendwann bei der Bank. Mit der nötigen Organisation funktioniert also auch ein Leben ohne Augenlicht ganz gut.