Heiligenhaus. Das Haus Selbeck in Heiligenhaus für Geflüchtete zu nutzen, ist umstritten. Bewohner erzählen ihre Geschichte – und was ihnen Hoffnung macht.

Als die siebenjährige Suzi auf Deutsch anfängt zu zählen, sind alle Augen im kleinen Gemeinschaftsraum auf sie gerichtet. Zwar endet die Vorstellung bereits bei „zehn“, doch das mindert nicht das begeisterte Lachen des Publikums. Es sind die unscheinbaren Momente des Miteinanders in denen klar wird: Familie Correia aus Angola ist endlich in Heiligenhaus angekommen – für ein sicheres Leben und die Gesundheit ihrer jüngsten Tochter sind sie geflüchtet. Wer es nicht besser weiß, würde der fröhlichen, lebensbejahenden Familie aus Angola die Angst und Hemmungen nicht ansehen. Doch sie sind da.

Für bislang 37 zugezogene Geflüchtete in Heiligenhaus steht die Welt Kopf. Im positivsten Sinne, denn: Während eines der beiden Gebäude des Hauses Selbeck von innen noch einer Bauruine gleicht, bewohnen sie das „Haus eins“, wie es genannt wird. In dem Neubau stehen 22 beschauliche Wohnungen auf drei Etagen zum Einzug bereit. Und stehen damit im Kontrast zu vielen anderen Flüchtlingsunterkünften.

Zurzeit leben dort ausschließlich Familien, 18 Erwachsene und 19 Kinder, aus sechs verschiedenen Nationen: Afghanistan, Angola, Russland, Syrien, Türkei, Ukraine – Vielfalt, die in kurzer Zeit schon Freundschaften hervorbrachte. Einige der Kinder toben auf dem Flur, die Eltern unterhalten sich mitten im übersichtlichen Gewusel, im Gemeinschafts- oder Wäscheraum, wiederum andere nutzen die bescheidene Küchenzeile zum Kochen.

Im Haus Selbeck in Heiligenhaus sind 37 Geflüchtete untergebracht – eines von zwei Gebäuden ist bezugsfertig.
Im Haus Selbeck in Heiligenhaus sind 37 Geflüchtete untergebracht – eines von zwei Gebäuden ist bezugsfertig. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Stadt Heiligenhaus: „Wenn die Familien herkommen, sind sie sehr dankbar“

Beim Spazieren durch die leeren Flure fällt zuallererst der hellbraune Laminatboden auf, der die kühlen, frisch gestrichenen Wände kompensiert, die dem Gebäude zwangsläufig die Gemütlichkeit eines Krankenhausflures verleihen. Neubau hin oder her, von Luxus ist die Flüchtlingsunterkunft an der Rügenstraße weit entfernt. Besser als eine Sporthalle mit Feldbetten ist sie deutlich!

In jedem Apartment stehen ein zweistöckiges Etagen- und ein Einzelbett mit Metallgestell; einen Holztisch und drei Stühle mit dunkelbraunen Sitzpolstern sowie einen hüfthohen Kühlschrank gibt es oben drauf. Letztlich liegt es in der Hand der Geflüchteten, aus dem sterilen Ambiente ein wohnliches Zuhause zu machen – Bettwäsche und ein Teppich verändern das Bild bereits enorm. Die angrenzenden, großen Badezimmer sind offensichtlich auf die Barrierefreiheit der ursprünglich vorgesehenen Beatmungs-WG ausgerichtet.

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„Wenn die Familien herkommen, sind sie sehr dankbar“, sagt Jonathan Köhlinger vom Sozialamt der Stadt Heiligenhaus, der sich um den Bereich der Unterbringung von Geflüchteten kümmert. Die Freude sei ihnen anzusehen, wenn sie ihr vorübergehendes Zuhause betreten. Bislang hätten sie den Platz optimal nutzen können, sodass keines der Zimmer von nur einer oder zwei Personen belegt sei. Für größere Familien, wie Familie Correia, bestehe sogar die Möglichkeit, zwei Wohnungen über einen Durchgang miteinander zu verbinden, erklärt Köhlinger.

Krankheit der jüngsten Tochter motivierte Familie zur Flucht

Zu Besuch in der Flüchtlingsunterkunft im Haus Selbeck in Heiligenhaus. Auf dem Foto: Familie Correia aus Angola.
Zu Besuch in der Flüchtlingsunterkunft im Haus Selbeck in Heiligenhaus. Auf dem Foto: Familie Correia aus Angola. © Tom C. Hoops

„Politik, Bildung und Gesundheitsversorgung in Angola sind sehr chaotisch“, steht auf dem Handy-Display von Silvio Mateus Manuel. Der 38-Jährige Familienvater ist im Juli mit seiner Frau Zelia Epifania Salvador Correia (34), seinem Sohn Aristotles Stelio (17) sowie den Schwestern Suzianeth Luzia (7) und Silvia Graziela (3) aus ihrer Heimat geflohen. Die wenigen deutschen Wörter, die die Familie seit ihrer Ankunft in Heiligenhaus am 6. November gelernt haben, reichen nicht für ein Gespräch über ihr Schicksal aus – eine Übersetzungs-App macht es möglich.

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„Die Lage in Angola ist prekär, wir möchten unserer Tochter helfen“, spricht die Mutter nach einer kurzen Diskussion mit ihrem Mann und Sohn betroffen ins Smartphone. Silvia Graziela ist schwer an der so genannten Sichelzellenanämie erkrankt, die südlich der Sahara weit verbreitet ist. Die erblich bedingte Anomalie roter Blutkörperchen führe bei der Dreijährigen zu starken Knochenschmerzen und Atemproblemen. Dabei steigert die Behandlung in einem deutschen Krankenhaus ihre Chance auf ein längeres Leben. Schließlich liegt die Lebenserwartung von Erkrankten bei nur 50 Jahren, sofern sich kein passender Stammzellenspender findet.

Der 17-jährige Aristotles Stelio kümmert sich viel um seine jüngeren Schwestern. In seiner Freizeit schlägt sein Herz aber vor allem für Sport. „Futebol“, sagt er grinsend – für diesen unmissverständlichen Begriff braucht es keine App. Laut seinen Eltern kann er sogar richtig gut kicken. Peinlich berührt von dem ganzen Lob guckt er auf den Boden, wie es wahrscheinlich jeder Teenager an seiner Stelle getan hätte. Worauf hofft die junge Familie aus Angola in Heiligenhaus? Die fünf Wörter, die auf diese Frage folgen, sprechen Bände: „Gesundheit, Staatsschutz, Sicherheit, Arbeit, Seelenzufriedenheit.“

„Wir möchten, dass Deutschland unsere neue Heimat wird“

Als die Taliban an die Macht kamen, waren ihre Jobs und ihr Leben gefährdet. Auf dem Foto: Familie Omerzad/Naseeri aus Afghanistan.
Als die Taliban an die Macht kamen, waren ihre Jobs und ihr Leben gefährdet. Auf dem Foto: Familie Omerzad/Naseeri aus Afghanistan. © Tom C. Hoops

Vor Kurzem ist eine weitere dreiköpfige Familie, aus Afghanistan, ins Haus Selbeck eingezogen: Mena Naseeri (27), ihr Mann Mohammad E. Omerzad (24) und Sohn Mohammad I. (4) freuen sich, endlich ihr neues Leben in Heiligenhaus anzufangen. „Wir möchten, dass Deutschland unsere neue Heimat wird und hier arbeiten“, stellt Mohammad in fließendem Englisch klar.

Als die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen, sei es unmöglich für sie geworden, ihren Job auszuüben. Dabei war der Familienvater sechs Jahre lang als Finanzmanager des Präsidenten Ghani tätig, Mutter Mena Naseeri studierte Politikwissenschaften. „Wir haben versucht, die europäische Kultur weiter zu etablieren, doch als die Taliban kamen, durften wir das nicht mehr“, erzählt Omerzad. Naseeri ergänzt: „Uns drohte Arrest und unser Leben war in Gefahr.“ Die junge Familie möchte nicht viel: Ein gutes Leben, in Freiheit, in Sicherheit, mit Arbeit. Und die Menschen in Deutschland kennenlernen, in der Hoffnung, dass sie ihnen gegenüber wohlgesonnen sind.

Bis Ende des Jahres 2023 rechnet die Stadt mit neun zusätzlichen Bewohnerinnen und Bewohnern. Nach dem aktuellen Stand sind Heiligenhaus 28 weitere Geflüchtete zugewiesen, sodass das „Haus eins“ voraussichtlich im Januar voll bewohnt ist – gleichzeitig ist noch nicht klar, wann das „Haus zwei“ fertiggestellt wird. Folglich muss die Stadt bis Februar eine zusätzliche Unterkunft für Geflüchtete finden. Einige Anwohner üben zudem Kritik am Haus Selbeck und fordern eine diversifizierte Nutzung.