Die 62-Jähirge Maria ist an der fronto-temporalen Demenz erkrankt und lebt in einem Pflegeheim. Ihre Schwester Carola (61) geht mit ihr regelmäßig an der Ruhr spazieren. Dabei sind viel Geduld und Einfühlungsvermögen gefragt.

Maria (62) lacht; zumindest sieht es danach aus. Mit ihren Lippen hat sie ein breites U geformt, mit ihren Augen blickt sie ihrem Besuch aufmerksam-freundlich entgegen. So, als wolle sie sagen: Es geht mir gut jetzt gerade. Doch diesen Satz sagt Maria nicht. Nicht heute, nicht morgen und auch sonst nie wieder. Und ob sie lacht oder ihr Gesichtsausdruck eine ganz andere Bedeutung hat, lässt sich mit letzter Gewissheit nicht sagen. Weil Marias Welt nicht die unsere ist – nicht mehr.

„Dann wollen wir mal sehen!“ Wie eine, die auf alles vorbereitet sein möchte, hat Carola (61) eben diesen Satz gesagt, als sie das Pflegeheim im Essener Süden betritt, in dem die Hattingerin Maria seit zweieinhalb Jahren lebt. Ob die Schwester sich heute leicht motivieren lässt für einen Spaziergang an der Ruhr oder ob sie gar nicht aufstehen mag aus ihrem Bett, wie Carola es oft erlebt bei ihren mehrmals wöchentlichen Besuchen? „Man weiß nie, was einen erwartet.“ Doch als sie Marias Zimmer betritt und sie beim Namen ruft, lacht diese sie an.

Sie streckt ihr die Hände entgegen

Auf der Autofahrt von Hattingen nach Essen noch hatte Carola ein wenig angespannt gewirkt, als sie erzählte von Maria, bei der im Sommer 2011 eine folgenschwere Diagnose gestellt worden war: Maria, so die Ärzte damals, sei an der „fronto-temporalen Demenz“ erkrankt, das ist eine sehr seltene Form der Demenz, die bei den Betroffenen zu starken Veränderungen im sozialen und emotionalen Verhalten führt. Die oft Teilnahmslosigkeit zur Folge hat und bei vielen auch die Stimme verstummen lässt. Wie bei Maria.

„Wir gehen jetzt gleich spazieren“, sagt Carola zu ihrer Schwester, die mit angewinkelten Beinen auf ihrem Bett liegt. „Komm, gib mir deine Hände, ich helfe dir hoch!“ Maria guckt, ihre immer noch zu einem U geformten Lippen erscheinen einem inzwischen wie eingefroren, sie wirkt apathisch. Doch dann streckt sie Carola ihre Hände entgegen, das „Oh-ohw“, das sie wie in einer Endlosschleife von sich gibt, wird eindringlicher.

Keine Viertelstunde später sitzt sie in Carolas Auto. „Maria, du machst heute ganz toll mit“, lobt Carola. Denn vom Aufstehen bis zum Gang über den Flur durchs Treppenhaus und zu Carolas Wagen – meist wenige Meter von der Eingangstür des Pflegeheimes entfernt geparkt – kann auch schon mal mehr als die doppelte Zeit vergehen. Demenzkranke, erklärt Carola, könne man nicht drängen. Man müsse sich vielmehr auf ihr Tempo einlassen: „Maria gibt den Takt vor.“

Klaaa-hhh-k, klaaa-hhh-k: Mit tastenden Schritten bewegt sich Maria vorwärts vom Parkplatz im Löwental in Richtung Ruhr. Ganz langsam setzt sie einen Fuß vor den anderen. Die Nordic-Walking-Stöcke, die Carola ihr an den Händen befestigt hat und die die einst sehr agile Frau aus ihrem Leben vor der Demenz kennt, scheinen ihr Sicherheit zu geben; und wohl auch die Schwester an ihrer Seite. Das U aus Marias Gesicht ist gleichwohl verschwunden, es wirkt jetzt maskenhaft-konzentriert. Dafür lacht nun Carola. Ihre Schwester an; und all’ die Menschen, denen das augenfällige Paar in der nächsten Stunde seines Spaziergangs begegnet.

Manchmal bleibt sie plötzlich stehen

Einige Radfahrer fahren vorbei – wortlos, blicklos. Ein Pärchen schaut den zweien verstohlen hinterher. Mit einer Mutter mit Sohn, mit zwei Anglern und mit einem Herrn mit Hund kommt es später zu kurzen Gesprächen. Mit Carola.

Was genau ihre Schwester von all’ dem wahrnimmt, das an diesem Nachmittag zu sehen, zu beobachten ist, lässt sich mit letzter Gewissheit nicht sagen. Man weiß nicht genau, ob der mit rund 500 Metern für Maria doch sehr weit vom Parkplatz entfernt liegende Camping-Platz, den sie heute nach Monaten wieder einmal erreicht, sie an frühere Familienurlaube im Wohnwagen erinnert. Nicht, ob ihr etwas besonders gut gefällt, wenn sie im Gehen ganz plötzlich stehen bleibt und wirkt wie erstarrt. Und nicht, ob sie es bemerkt, dass es manchen Menschen schwer fällt, sie zu – bemerken. Aber man spürt: Ihre Welt ist nicht völlig abgetrennt von der unseren.

Carola sagt, sie gehe ganz bewusst mit ihrer Schwester spazieren. Weil diese sich vor ihrer Erkrankung sehr gern bewegt habe; und weil sie findet, dass niemand mit einer Demenz sich vor anderen verstecken muss. Nicht die Erkrankung sei das Hauptproblem, sagt sie, „sondern wie die Gesellschaft damit umgeht“.

Fast scheint es, als ob Maria lacht.

Wie die Demenz Maria verwandelt 

Ihre Erkrankung hat Maria verändert. Nicht von jetzt auf gleich, es war und bleibt ein schleichender Prozess der (Ver-)Wandlung. Zur Welt ihrer Schwester durchzudringen, werde allerdings zunehmend schwieriger, sagt Carola. Wann genau die Demenz eingesetzt hat, lässt sich dabei heute nicht mehr sagen. Im Rückblick indes habe es schon vor Jahren „Zeichen gegeben“ .

Der Tag, an dem Marias Arbeitgeber bei der Familie anrief und erklärte, die einst so gewissenhafte Fotolaborantin habe seit geraumer Zeit „keine Zeitvorstellung mehr“ und zeige auch sonst „ein auffälliges Verhalten“, fällt Carola ein; und ein Treffen mit der Schwester, bei dem diese irgendwann ihre Tasche mit einem Dutzend Labello-Stiften öffnete: „Die hab’ ich alle geklaut.“ Und noch viele andere aufrüttelnde Momente – aber wer denkt gleich an Demenz? Wer will schon etwas mit der Erkrankung zu tun haben . . .?

„Warum ausgerechnet ich?“ habe Maria im ersten Moment gesagt, als die Ärzte ihr die Diagnose „fronto-temporale Demenz“ mitteilten, erinnert sich Carola. Und dass sie Marias Erkrankung anfangs „negiert hat“. Inzwischen kann sie sich einlassen auf die Schwester und deren sich verändernde Welt. Der Austausch in der Selbsthilfegruppe der Alzheimer-Gesellschaft hilft ihr dabei. Und eine geradezu philosophische Sicht auf unser Lebenswissen.

Je größer dieses werde, sagt Carola, desto größer werde auch das Wissen darüber, was man alles nicht weiß. Wenn das Lebenswissen aber abnehme wie bei Maria, „dann weiß man auch zunehmend weniger, was man alles nicht weiß.“