Hattingen. Heute vor 20 Jahren brannte das Haus der Familie Ü. an der Unionstraße in Hattingen. Viele vermuteten einen rechtsradikalen Anschlag. Angeklagt wurde jedoch die Mutter, die drei Jahre später aber freigesprochen wird. Was bleibt, sind viele unbeantwortete Fragen.

Der 5. Juni 1993 – es ist der Tag, an dem für die türkische Familie Ü. alles anders wird; der Tag, an dem eine ganze Stadt in helle Aufregung versetzt ist. Es ist der Tag, an dem an der Union­straße 20 ein Haus ausbrennt, offensichtlich durch Brandstiftung – eine Woche, nachdem in Solingen fünf Angehörige der türkischen Familie Genç bei einem rechtsextremistischen Brandanschlag ums Leben kamen. Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen – und nun auch Hattingen? Die Stadt ist im Ausnahmezustand. Täter: unbekannt – und das bis heute. Und es ist unwahrscheinlich, dass das Rätsel jemals gelöst werden wird. „Das waren die höllischsten Stunden meines Lebens“, sagt Yasar Ü., der Familienvater, in einem Telefonat. Die Hattinger Zeitung hat ihn in der Türkei gefunden, wohin die Familie Ende der 1990er Jahre gegangen ist.

Als er am 5. Juni 1993 von der Nachtschicht in Duisburg nach Hause kommt, ist dort nichts mehr wie zu dem Zeitpunkt, als er zur Arbeit fuhr. Seine Frau, auch sie heißt mit Vor­namen Yasar, sagt aus, sie sei von ihrem dreijährigen Sohn Osman geweckt worden. Das Kind hatte Brandgeruch bemerkt. Beim Weg aus dem Haus habe sie einen Mann im Treppenhaus ge­sehen, den sie der Polizei auch beschreiben kann. Zum Glück sind alle sechs an­wesenden Familienmitglieder unverletzt ins Freie gekommen.

Als sich die Nachricht vom Brand an der Unionstraße herumspricht, denken nach den Vorfällen von Solingen alle nur eines: Jetzt haben die Rechtsradikalen auch in Hattingen einen Anschlag auf Ausländer verübt.

Die Stimmung ist extrem aufgeheizt, viele Ausländer fürchten sich vor gewalttätigen Ausschreitungen. Am Tag nach dem Brand, einem Sonntag, findet unter starken Sicherheitsvorkehrungen eine große Demonstration statt. Deutsche und Türken, auch viele Politiker, gehen auf die Straße, machen Stimmung gegen die Angriffe von rechts und für ein friedliches Miteinander.

Zweifel am Tathergang

Staatsanwaltschaft und Polizei aber kommen Zweifel am Tathergang. So ist das Feuer nicht durch einen Brandbeschleuniger – Benzin oder Spiritus – forciert worden, sondern durch brennende Papierknäuel, die in Schränken lagen. Das scheint nicht die Handschrift eines Attentäters zu sein. Schon nach wenigen Tagen verdächtigen sie die Frau, den Brand gelegt zu haben. Das vermeintliche Opfer – nun eine Täterin? Enge Vertraute der Familie können und wollen das nicht glauben.

Dennoch: Als der Vorwurf durch­sickert, kommt eine für die Familie fatale Gerüchteküche in Betrieb. Die Frau habe zurück in die Türkei gewollt, ihr Mann aber nicht – die Brandstiftung sei gewissermaßen ihr Versuch gewesen, Tatsachen zu schaffen: Deutschland sei eben doch unsicher. Auch über Versicherungsbetrug wird geredet, dabei sagen Vertraute der Familie, eine entsprechende Versicherung habe es gar nicht gegeben.

Die Folgen sind verheerend. In Welper, wo die Familie in der Zwischenzeit an anderer Stelle untergekommen ist, weil das alte Haus nicht mehr bewohnbar ist, wird sie durch Klopfen an der Tür gemobbt. Das behauptet nicht nur die Familie, das sagen auch Menschen, die ihr helfen. Die Kinder werden in der Schule mit den Vorwürfen gegen die Mutter konfrontiert.

Familie zog zunächst nach Duisburg 

Familie Ü. fühlt sich stigmatisiert. „Meine Frau hat nichts getan, aber die Leute erzählen etwas anderes“, sagt ihr Ehemann. „Ich weiß nicht, wer es war, ich kann nur sagen, dass meine Frau es nicht war.“ Vor dem Brand habe man sich wohlgefühlt in Deutschland. „Wir hatten uns ein Leben aufgebaut und waren glücklich“, sagt er. „Ich habe mich nicht als Gastarbeiter gefühlt, sondern das war mein Land.“

In Hattingen zu bleiben, daran ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Deswegen zieht die Familie zunächst nach Duisburg, aber auch hier findet sie keine Ruhe. Denn die Staatsanwaltschaft bringt die Vorwürfe gegen Frau Ü. im Jahr 1996 vor dem Landgericht Essen zur Anklage.

Der Prozess wird verbissen geführt, von den Verteidigern genauso wie von den Staatsanwälten. Am Ende steht ein Freispruch. Für die Familie ist das ein Erfolg.

Prozess-Be­obachter sagen zudem, es sei anderen Ermittlungs-Richtungen nicht richtig nachgegangen worden. Etwa der Aussage von Frau Ü. , dass sie einen Mann gesehen habe. Oder der Beobachtung eines Zeugen, dass er drei Jugendliche auf der Flucht beobachtet habe, bei einem von ihnen habe er zudem ein Runenzeichen im Haar erkennen können. Das aber steht nicht im Mittelpunkt des Prozesses, der einzig der Frage gewidmet ist, ob Yasar Ü. den Brand selbst gelegt hatte.

In der Türkei unglücklich

Die Familie geht in die Türkei, wo sie auch heute noch in einer kleinen Stadt in der Nähe von Şereflikoçhisar in der Zentraltürkei lebt.

Menschen, die der Familie bis heute nahe stehen, berichten, sie habe es nicht geschafft, sich dort einzuleben. Die Mutter müsse immer wieder ins Krankenhaus. Die Kinder hätten eigentlich in Deutschland studieren wollen, doch diese Pläne hätten sich zerschlagen. Schwierigkeiten habe es gegeben, weil sich auch in der Türkei der Vorwurf gegen die Familie herumgesprochen habe. „Unser ganzes Leben ist kaputt “, sagt Yasar Ü. „Wenn ich darüber nachdenke, werde ich ganz verrückt.“

In Hattingen erinnert nichts mehr an das Feuer an der Union­straße. Schon bald nach dem Brand wird das Haus abgerissen, neue Eigenheime entstehen. Keine Spuren sind geblieben.

Doch vielen Menschen, die damals vor dem zerstörten Gebäude gestanden haben, ist er noch immer präsent: ­dieser durchdringende Gestank versengter Trümmer, den auch nach 20 Jahren kaum einer vergessen hat.