Hattingen. . Viele Schausteller sind auf der Kirmes aufgewachsen. Michael Bertram hat seinen Kindheitstraum erfüllt
Der Rathausplatz ist fast menschenleer. Die Jalousien an den Wagen sind noch heruntergelassen. Noch zwei Stunden, bis Popcorngeruch und der Duft gebrannter Mandeln die Luft erfüllen werden. Am Mittag wird die Kirmes eröffnet.
Ein junger Mann, Michael Bertram, und eine ältere Dame, Carola Kuchartz, stehen an der geöffneten Seitentür des Süßwarenstands „Süßer Speicher“, in dem Rosemarie Kohlwes-Seibel mit letzten Vorbereitungen beschäftigt ist. Zeit für einen kleinen Plausch bleibt trotzdem. Die 71-Jährige ist seit ihrer Kindheit als Schaustellerin unterwegs und hat immer wieder auch in Hattingen Station gemacht: „Seit meinem zehnten Lebensjahr komme ich hierher. Damals war das Finanzamt noch gar nicht gebaut“, erinnerst sich Kohlwes-Seidel. Ans Aufhören denkt die 71-Jährige bisher nicht – „Meine Mutter hat das noch mit 85 gemacht“ – vielleicht in ein bis zwei Jahren, falls ihre Enkelkinder den Stand übernehmen wollten. Der Ältere hat gerade sein Abitur gemacht und ist jetzt selbst „auf Reisen“, der Jüngere geht noch zur Schule.
Schräg gegenüber bietet Carola Kucharz Lebkuchenherzen und gebrannte Mandeln an. Ihre Preise sind die gleichen wie beim „Süßen Speicher“. Schließlich wollen sich Tante und Nichte keine übermäßige Konkurrenz machen. Mit den „Wiener Mandeln“ ist Carola Kucharz erst seit 30 Jahren unterwegs und wenn es nach ihr geht, auch noch viele weitere Jahre.
Auftritte in allen großen Varietés
Ich mache das so lange ich lebe“, sagt die 86-Jährige. „Zu Hause ist es langweilig“ und mit alten Leuten kann sie nichts anfangen „Die sprechen nur von Krankheit und Friedhof. Ich will ja noch ein bisschen leben“, betont die Gelsenkirchenerin. Früher war Kucharz Artistin, ist in „allen großen Varietés und Zirkussen“ aufgetreten. Sie hat mit Raubtieren gearbeitet. Ihre Augen leuchten, wenn sie davon erzählt. Doch irgendwann war das vorbei. „Ich hab’ kein Gesicht mehr, um auf der Bühne zu stehen,“ erklärt sie ohne Bitterkeit. Später kommt sie noch einmal aus ihrem Wagen heraus, um zu zeigen, was sie gefunden hat: Ein kleines Fotoalbum mit alten schwarz-weißen Aufnahmen, auf denen sie zu sehen ist: eine hübsche junge Frau mit langen schwarzen Haaren und wachem Blick. Auf einem Bild reitet sie auf einem großen Elefanten. Kucharz sagt, sie war in ihrer Jugend auf etwa 65 verschiedenen Schulen, denn wie viele hier ist sie schon in einer Schaustellerfamilie groß geworden.
Ganz anders war das bei Michael Bertram. Sein Vater ist Radio- und Fernsehtechniker, seine Mutter Hausfrau. Doch Bertram war schon früh fasziniert vom Schaustellerleben. Seit seinem elften Lebensjahr ist er dabei. Hat zunächst auf der Kirmes in seinem Heimatort Zülpich ausgeholfen und dann eine Lehre zum Einzelhandelskaufmann gemacht, um sich selbstständig zu machen. „Meine Eltern waren erst nicht begeistert“, gibt der zweifache Vater zu und erzählt: „Als kleines Kind habe ich immer wie ein Verrückter Lose gekauft. Einmal habe ich übers Jahr 350 Mark gespart und sie nur für Lose ausgegeben.“ Inzwischen ist er mit seiner eigenen Losbude „Die Bayrische Loshütte“ und noch ein paar kleineren Attraktionen unterwegs. Seine Lebensgefährtin Melanie Liebe (27) und die beiden Kinder Miguel (7) und Mandy (3) sind immer dabei.
Jede Woche eine andere Schule
Für Miguel heißt das, dass er jede Woche mit anderen Kindern zusammen trifft. „Mein Sohn geht da zur Schule, wo wir gerade stehen. Am Dienstag geht er noch hier zum Unterricht und am Mittwoch dann im Radevormwald“, erklärt Bertram. „Erst haben wir gedacht, dass das problematisch sein könnte“, aber, so der 30-Jährige, Miguel sei sehr offen und gehe auf die anderen Kinder zu. Sorgen macht dem Vater eher der Unterrichtsstoff, vor allem wenn seine Kinder älter werden, weil die Klassen alle unterschiedlich weit seien. Miguel selbst findet es „doof“, dass er immer wieder neue Freunde suchen muss, aber er erzählt auch, dass die anderen Kinder sich freuen, wenn er mal wieder in die selbe Klasse kommt und „Die Schule in Hattingen ist cool“. Außerdem gibt es bestimmt viele Kinder, die neidisch darauf sind, dass er jeden Tag auf der Kirmes sein darf.
„Ein besseres Leben kann man sich als Kind gar nicht vorstellen“, das findet zumindest Christian Weber, dessen Familienmitglieder schon in der siebten Generation Schausteller sind. Weber ist mit seinen 27 Jahren bereits Chef, aber, so sagt er, „Ich war schon immer Chef. Früher eben Juniorchef.“ Von März bis Oktober sind Weber und seine Frau mit ihrem Fahrgeschäft auf der Straße. Nach dem Weihnachtsmarkt ist dann erst einmal Pause. Im Januar und Februar sind Reparaturen an gesagt und alles wird neu gestrichen. Zwei Lkw für den Transport und einen großen Wohnwagen haben sie immer dabei. Zwei Angestellte helfen ihnen mit der Arbeit. Jeder Platz sei anders, sowohl was den Aufbau angehe als auch das Publikum, meint Weber.
Heiratsantrag im Musikexpress
„Es gibt keinen Alltag auf der Kirmes. Es gibt viel Stress und Aufregung, aber auch viel Freud und Leid“, dabei denkt der 27-Jährige an einen Unfall, den es im „Musikexpress“ eines Kollegen gab und bei dem Fahrgäste verletzt wurden. Danach hat Weber seinen Musik-Express noch einmal zusätzlich überprüfen und alle Ableger röntgen lassen, was sonst nur alle zwei Jahre gemacht werde. Aber es gibt auch besonders schöne Momente. „Ein junger Mann kam zu mir an die Kasse und fragte, ob er mal mein Mikrofon haben darf“, erzählt er. Eigentlich macht Weber das nicht gern, aber in diesem Fall hat er sich überzeugen lassen. Die Freundin des jungen Mannes saß im Musikexpress und er hat ihr über Lautsprecher einen Heiratsantrag gemacht. Dann fiel er vor ihr auf die Knie. Alle Leuten seien stehengeblieben – denn, so wirft Weber ein „Wir haben ja auch draußen Beschallung“ – und hätten geklatscht. Christian Weber kann sich kein anderes Leben vorstellen: „Jetzt freut man sich so langsam, dass es bald nach Hause geht, aber im Frühjahr freuen wir uns genauso, wenn es wieder losgeht.“