Hattingen. Vor hundert Jahren lebte der Urgroßvater unserer Mitarbeiterin Lene Lemmer als Missionar in Südwestafrika.

Gleich ist es so weit – im Diamanten-Sperrgebiet ist der Wüstensand heiß und die Sonne brennt auf den Armen, doch wir sind so aufgeregt, dass wir immer schneller laufen. Durch die totenstille, wie erstarrte Geisterstadt, vorbei an Häusern, die im Sand verloren stehen, mit zerbrochenen Fensterscheiben, fehlenden Türen. Einst verhandelten hier Geschäftsmänner, spielten Kinder im Sand, jetzt ist alles verlassen und dennoch lassen die Häuser ihre ehemalige Schönheit erkennen. Dann – endlich entdecken wir sie: die alte Schule von Kolmannskuppe, in der meine Oma als junges Mädchen saß, Rechnen und Lesen lernte. Fast hundert Jahre später kriechen mein Vater und ich durch ein Loch in der Tür in die ehemaligen Klassenräume. Wir begeben uns auf Spuren­suche. Spurensuche in Namibia.

Im Jahr 1908 wurde der erste Diamant in der Nähe vom daraufhin erbauten Ort Kolmannskuppe gefunden. Etwa 300 Deutsche lebten schließlich hier, sie sperrten das Gebiet ab. Um Diamanten aus dem Sand zu sieben, brauchten sie viele Arbeiter. Die Ovambo, Ureinwohner aus dem Norden des damaligen Südwest, wurden dafür als geeignet empfunden und rund 800 Männer angeworben. Mein Urgroßvater Carl Skär war als Missionar von der Rheinischen Mission in Barmen entsandt worden und wollte die Ureinwohner zum christlichen Glauben bekehren. Deshalb zog er nun mit ihnen und seiner Familie aus dem Ovamboland hierher; lebte zunächst an der nahen Küste in Lüderitzbucht, schließlich direkt im Sperrgebiet Kolmannskuppe, als das Diamantenfieber ausbrach. Mehr als fünf Millionen Karat, etwa 1000 Kilogramm, wurden bis zum Jahr 1914 aus dem Sand gesiebt. Damals machten die Funde zwanzig Prozent der Weltförderung aus. Die „Deutsche Diamanten Gesellschaft“ wurde gegründet.

Ich kenne die alten Fotos, Briefe und Geschichten von Kolmannskuppe und stelle mir vor, wie meine Oma als kleines Mädchen mit ihren drei Schwestern durch den Sand läuft. Wie die vier mit geflochtenen Zöpfen, feinen Kleidchen und geputzten Schuhen aus dem Haus um die nächste Ecke rennen und ihre schicken Schuhe schnell wieder ausziehen. Sie wollten immer nur barfuß laufen. In welchem Haus sie lebten oder ob es überhaupt noch steht, weiß heute niemand mehr.

In die Schule von Kolmannskuppe gingen 44 Kinder – darunter meine Oma, nach der ich genannt wurde: Lene. Ihre älteren Schwestern Hanna und Elisabeth waren Zwillinge, die jüngste, Marianne, wurde in Kolmannskuppe geboren. Sie ist heute 91 Jahre alt und die einzige, die von den Schwestern noch lebt.

Während wir durch die leeren Räume gehen, in denen die alte grün-gestreifte Tapete noch an der Wand hängt und es ansonsten nur Berge von Sand gibt, sehe ich die Schwestern hier lachen und weinen. Einige Türen lassen sich nicht mehr öffnen, weil der Wüstensand sie halb bedeckt hat. In anderen Zimmern stößt man mit dem Kopf fast an die Decke, so viel Sand hat der Wind durch die zerbrochenen Fenster hinein geweht. Die Wüste zeigt, wie mächtig sie ist. Aber weil es hier immer trocken ist, ist nach rund fünfundsiebzig Jahren noch alles erstaunlich gut erhalten geblieben, denn als ab dem Jahr 1928 die Diamantensuche nach Süden an den Oranje-Fluss verlagert wurde, verließen die Bewohner den kleinen Ort. Seit Ende 1980 wird die Geisterstadt von Touristen besucht. Doch lange Zeit gehörten die Häuser nur dem Wind und dem Sand.

Die kleine Hanna fand einen Rohdiamanten. Sie brachte ihn nach Hause und präsentierte ihn stolz. „So zornig habe ich unseren Vater noch nie erlebt“, hatte meine Oma erzählt. Hätte jemand mitbekommen, dass sie einen Diamanten an sich genommen haben, wäre Carl Skär sofort entlassen, zurück nach Deutschland geschickt worden. Wollte jemand aus dem Sperrgebiet hinaus, wurde er streng kontrolliert. Bei den Ovambo wurden sogar die Haare durchsucht und der Stuhlgang überprüft, damit kein kostbarer Stein hinaus geschmuggelt werden konnte. Natürlich hielt den Missionar Carl Skär auch sein Glaube davon ab. Er schmiss den Diamanten – so weit er konnte – zurück in den heißen Wüstensand. Wir haben ihn auf unserer Reise nicht gefunden.

Als sie zehn war, stieg sie in ein Schiff nach Deutschland

Nach vielen Tagen, in denen wir nur Sand und Dürre gesehen haben, ist der Anblick des Meeres noch schöner, als er ohnehin schon ist. Links funkelt der Atlantische Ozean in der Bucht von Lüderitz. Zu Fuß sind mein Vater und ich durch die namibische Stadt, durch Bahnhof- und Bismarckstraße hindurch, in die gesuchte Hafenstraße eingebogen. Am 1906 im Jugendstil erbauten Woermann-Haus gehen wir vorbei, um das Haus zu finden, in dem meine Oma, die Mutter meines Vaters, im Jahr 1918 zur Welt kam.

Wir haben ein älteres Foto dabei und einen Straßenplan. Plötzlich ruft mein Vater: „Ich sehe es! Da vorne!“ Gegenüber vom Meer steht auf der rechten Straßenseite ein weißes Haus mit blauem Dach. Hier hat meine Oma als kleines Kind gelebt, hier ist sie aufgewachsen. Es ist gleichzeitig schwer und leicht, sich das vorzustellen. Namibia ist ein fernes, fremdes Land für uns. Gleichzeitig kommt mir das Haus auf einmal vertraut vor. Als meine Oma hier geboren wurde, hatte ihr Vater Carl Skär bereits mehr als 2000 Ovambo getauft. Nur wenige Meter neben dem Haus steht noch heute die bräunliche Kirche, in der er einst den dunkelhäutigen Ureinwohnern den christlichen Glauben nahe brachte. In die viel schönere Felsenkirche durften die Ureinwohner nicht gehen, die war nur für die Weißen. Heute scheint weder die bräunliche Kirche noch das Haus belebt. Am Haus versperrt ein Gitter die rote Treppe hinauf zur Tür. Wir können auch kein Namensschild erkennen. Einen schönen Ausblick auf den Atlantischen Ozean hatten sie, das ist auch heute noch so. Hier hat die Familie gelebt, bevor sie nach Kolmannskuppe zog.

Die deutschen Kolonialherren haben den Einwohnern ebenso Gutes wie auch viel Schlechtes gebracht. Abgesehen von den grausamen Kämpfen der Deutschen gegen die Herero und Nama – mussten die Ovambo-Männer ihre Heimatorte und ihre Familien verlassen, um in Lüderitzbucht und im Sperrgebiet für die Weißen zu arbeiten. Sie ließen ihre Frauen und Kinder dafür zurück, sodass meine Oma und ihre Schwestern als kleine Mädchen von den Dunkelhäutigen nur die Männer kannten. Einmal fragten sie ihre Mutter Wilhelmine Skär: „Wie können sich eigentlich die Ovambo vermehren? Von denen gibt es doch nur Männer!“

1928 wurde meine Oma mit ihren beiden Schwestern nach Deutschland ins Töchterheim Kaiserswerth geschickt. Sie war zehn Jahre alt, als sie ihre Eltern verlassen musste, in ein Schiff stieg, um in ein Land zu kommen, das für sie damals völlig fremd war und das sie doch nie mehr verlassen hat: Deutschland.