Hattingen. Gerhard Wojahn erinnert sich an seine Jugend in dem früheren Viertel an der Großen Weilstraße.

Vor langer Zeit, als es die Chaussee von Hattingen über die „Kaffeemühle“ nach Nierenhof noch nicht gab, kamen Kaufleute, Bauern und Pferdezüchter aus dem benachbarten Märkisch-Langenberg mit ihren Pferdefuhrwerken über den Homberg oder durch das Balkhauser Tal am Isenberg entlang zu den Märkten in Hattingen. Ihre Rosse stellten sie zwischen der Kreuzung Große Weilstraße/Gelinde und der Stadtmauer ab. Seitdem nannte man den Stellplatz „Klein Langenberg“.

In dem beschaulichen, stillen und idyllischen Sträßchen standen in den 1930er Jahren acht Fachwerkhäuser aus dem 16. und 17. Jahrhundert, bewohnt von 24 Familien, darunter neun Rentner-Ehepaare. Die Bauten waren nach dem gleichen Prinzip erstellt, die Wohnverhältnisse bescheiden. Im Erdgeschoss gab es nur eine Toilette für alle Bewohner. In jener Altstadtgasse wurde ich im Jahre 1928 geboren und verbrachte dort meine Jugendzeit. Die Eindrücke in meinem ersten Lebensabschnitt sind mir noch in guter Erinnerung.

Nach der Inflation im Jahre 1923 und langer Arbeitslosigkeit hatten fast alle Männer bereits 1934 einen festen Arbeitsplatz. Einige als Kranführer, Schlosser und Schreiner auf der Henrichshütte, andere im Bergbau, bei der Reichsbahn, im Gartenbau und einer war Nachtwächter. Ferner waren ein landwirtschaftlicher Arbeiter, Heizer und Fuhrmann bei der Kornbrennerei Weygand tätig.

Den beschwerlichsten Weg zur Arbeit hatten die drei Bergleute. Schon um 4.30 Uhr brachen sie zu Fuß auf zur Schachtanlage Dahlhauser Tiefbau bzw. Baaker Mulde. Sie mussten um 6 Uhr zum „Kohle-los-machen“ in ihrem Pütt sein. Damals wurde allgemein nicht viel verdient, der Stundenlohn für einfache Tätigkeiten begann bei 50 Pfennigen. Mit solchen Löhnen waren keine großen Sprünge zu machen.

Die Regeln für das Zusammenleben der Menschen in unserer Gasse ergaben sich aus den Umständen. Die bescheidenen, anspruchslosen, friedvollen Bürger waren hilfsbereit. Wenn dem Bergmann Karl eine Fuhre Kohlen als Deputat geliefert wurde, trugen Nachbarsjungen die Briketts eimerweise in seinen Lagerschuppen. Während Emil im Garten Altholz auf dem Hauklotz zerkleinerte, konnten sich Nachbarinnen Anmachholz für ihren Herd holen. Und erlitt die hochbetagte Wilhelmine wieder mal einen Herzanfall, dann eilte Emilie sofort herbei und leistete ihr Beistand.

Die zentrale Wohnlage machte alle glücklich und zufrieden.

Verlass war auf unseren Milchmann. Bauer Stoltenberg aus Bredenscheid-Stüter kam dreimal wöchentlich in die Stadt und stellte den Pferdewagen in Klein Langenberg ab. Er suchte die Kunden an der Wohnungstür auf. Unsere Familie nahm regelmäßig einen Liter Vollmilch, Preis: 18 Pfennige.

Ebenso zuverlässig und pünktlich bediente der Briefträger gegen 9 Uhr unser Revier und übergab die Briefsendungen jedem Empfänger mit einem fröhlichen „Guten Morgen“; am Nachmittag drehte er eine weitere Runde und die Sonntagzustellung zählte ebenfalls zu seinen Pflichten. In unserem Gässchen bezogen alle Familien „Die Heimat am Mittag, Hattinger Zeitung“. Zustellung werktags gegen 12.30 Uhr.

Mitte der 1930er Jahre war die Müllabfuhr nicht umweltfreundlich. Erst ein Pferdekarren und später ein Lkw mit offener Ladefläche holte wöchentlich die Asche ab. Als Ascheneimer dienten im Allgemeinen Marmeladen-Eimer, die man mit einem bisschen Glück in Kaiser’s-Kaffeegeschäft geschenkt bekam. Da grundsätzlich alles Brennbare in den Herd gesteckt und verfeuert wurde, befand sich im Mülleimer fast ausschließlich reine Asche. Sie verursachte beim Entleeren der Eimer die Staubwolke. Leere Konservendosen waren die Ausnahme, Einwegflaschen kannte man nicht und Plastikbecher waren noch nicht erfunden. Die Gemüseabfälle verfütterte jeder selbst an seine Kaninchen oder Hühner. Küchenabfälle und Kartoffelschalen wurden getrennt gesammelt und von der Schweinemastanstalt in der Kreisstraße (direkt hinter der Eisenbahnüberführung gelegen) abgeholt. Plakate an den Litfaßsäulen riefen die Bürger auf „Wenn Du Küchenabfälle hast, her damit zur Schweinemast!“