Hattingen.

Bei der Nachtwächter-Führung verstehen Hörgeschädigte dank der Technik die Stadtgeschichte.

Sensationell: Die Gebrüder Grimm haben ihre bekannten Geschichten von den Hattingern geklaut! „Das Märchen vom Rotkäppchen erzählte man sich in unserer Stadt schon viel früher. Es war bekannt unter dem Namen: Die mit der roten Kappe auf’m Kopp“, erklärt Arnold Tacke. Und auch das Aschenputtel kannten die Hattinger schon vor ewigen Jahren als „Schmierläppken“. Natürlich nur ein Scherz – um zu verdeutlichen, wie bedeutsam Hattingen doch ist.

„Gebt acht auf Feuer und Licht, damit kein Feuer ausbricht“, warnt der Nachtwächter und hält die hölzerne Laterne hoch, in der eine Kerze flackert. Mit schwarzem Mantel und Hut führt der Mann vom Stadtmarketing seine Gäste durch Hattingen.

Selbsthilfegruppe „Löffelboten“

Die neun Teilnehmer, die ihm folgen, gehören der Selbsthilfegruppe „Löffelboten“ an, und haben einen Hörfehler. Trotzdem können sie jedes Wort deutlich verstehen. Denn um den Hals der Frauen und Männer hängt eine Mikroportanlage. Sie ist so groß wie eine Hand und empfängt über Funk und per Ohrstecker, was der Wächter in sein Mikrofon spricht. Noch in vielen Metern Abstand hören alle seine Anekdoten und Geschichten über die Altstadt: „Früher haben sich bei Nacht Halunken und Räuber herumgetrieben“, erzählt Tacke und verrät sein Geheimnis, wie er dennoch jeden Dieb erwischt. „Zuerst muss man herausfinden, wie er aussieht und wie er heißt, anschließend wo er wohnt. Ist er dann noch zu Hause und geht mit, dann hast du ihn schon erwischt.“

Es gibt 153 Fachwerkhäuser, die unter Denkmalschutz stehen. Darunter natürlich auch das Bügeleisenhaus. „Hier hat ein sehr reicher Mann gewohnt, denn wessen Haus früher blauer Edelstein schmückte, importiert aus fremden Ländern, der hätte in der heutigen Zeit einen Porsche vor der Tür stehen“, sagt der Wächter.

Geschichten über die Geschichte der Stadt

Weiter geht’s zum Rand der Altstadt. Von der früher etwa 1,2 Kilometer langen Stadtmauer sind heute noch etwa 250 Meter erhalten geblieben. Damals war sie viel höher und diente als Schutz. „Wer nach neun Uhr abends nicht zurück in der Stadt war, bekam keinen Einlass mehr“, sagt der Wächter. Und dann, mit einem Lächeln: „Außer man konnte gut singen.“

Die Häuser, die direkt hinter der Mauer standen, hießen Wehrhäuser. Aus den obersten Fenstern warf man bei Gefahr Steine auf die Feinde. „Aber vor Heeren konnte sie die Bewohner dennoch nicht beschützen. Franzosen, Holländer und Spanier haben die Stadt angegriffen.“ Viele Jahrhunderte lang lebten hier etwa 800 bis 1000 Einwohner.

Zuhörerin Ulrike Tenbensel von den Löffelboten freut sich über die Mikroportanlage. Sie wurden der Selbsthilfegruppe gespendet. „Alles ist sehr gut über eine große Reichweite zu verstehen. Sonst lese ich von den Lippen ab, nun bin ich nicht mehr darauf angewiesen. Bei Dunkelheit oder wenn man mit mehreren zusammensteht, ist das Lippenablesen schwierig.“

Erstmals zieht auch Katharina Vollrodt (19) mit – von Fachwerkhaus zu Fachwerkhaus. Sie kennt die Gebärdensprache und kann zukünftig Bedürftige ebenfalls beim Verständnis unterstützen.