Hattingen.
Die Gaststätte als Ort der Stimmabgabe hat ausgedient, lange bevor das Rauchen zum Problem wurde.
Demokratie fängt in der Kneipe an. Generationen deutscher Wähler haben die oberste Bürgerpflicht in Wahllokalen erledigt, die diesen Namen verdienten. Weil es Lokale waren. Gaststätten und Kneipen eben. Tresen und Stammtisch waren stets im Blickfeld, wenn die Stimmzettel eingeworfen wurden.
Vergangene Zeiten: Von 51 Wahllokalen in Hattingen sind gerade einmal sechs wirklich noch ein Lokal: Benecken und der Alte Jäger in Winz-Baak, das Avantgarde-Hotel in Hattingen-Mitte, Geldmann und die Kupferkanne in Niederwenigern sowie Silva in Niederbonsfeld. Wobei Silva das einzige Gasthaus ist, in das die Stadt zur Stimmauszählung von einer Schule aus wechselte. „Weil der Weg sehr steil und wirklich sehr beschwerlich war”, wie sich Hermann Reiser erinnert. Der Fachbereichsleiter für Ratsangelegenheiten, Wahlen und Logistik bei der Stadt weiß, dass der Trend seit Jahren in die andere Richtung geht: Die Wahl findet ohne Lokal statt.
So im Evangelischen Krankenhaus statt in der Gaststätte Kirchmeier, so bei der Feuerwehr statt im Lokal Grüner Weg, so beim DRK statt im Osteck, so bei der HWG statt im Lokal Zur Pannhütte, so im Altenheim St. Josef statt in der Gaststätte Am Rosenberg, so bei der Feuerwehr Holthausen statt bei Wimpelberg, so in Holthauser Schulräumen statt An de Krüpe, so beim Turnverein statt im Gasthaus Weiß, so in Bredenscheider Schulräumen statt in der Gaststätte Am Wiedenkamp, so im Wichernhaus statt im Gasthof Zur Nieden, so bei der Feuerwehr Oberstüter statt im Scharfen Eck, so in der Schule am Zippe statt bei Voss zur Mühlen, so im Gemeindezentrum Oberstüter statt im Cafe der Tennishalle Bludau.
Seit 40 Jahren hat Hermann Reiser im Hattinger Rathaus ein Auge auf Wahlen auf allen Ebenen. Und die Liste, die er hier ganz spontan aus seinem Gedächtnis kramt, ist „sicher noch nicht vollständig”. Der Trend dagegen ist eindeutig. Und nachhaltig. Das Wahllokal stirbt aus.
Was natürlich mit dem Kneipensterben an sich zu tun hat. Viele ehemalige Wahllokale gibt es schlicht nicht mehr. Und die, die noch existieren, empfinden es immer seltener als Auszeichnung, als Anlaufstelle für die Abgabe von Volkes Stimme beim Wählerwillen mitwirken zu dürfen. Hier und da wohl auch aus wirtschaftlichen Gründen. Mit der Ausrichtung einer Konfirmation lässt sich mehr verdienen als mit der kostenlosen Bereitstellung des Gesellschaftszimmers für den Urnengang.
Und jetzt, so scheint’s, geben die Raucher dem Aussterben des Wahllokals noch den Rest. In vielen Revierstädten haben die Rathäuser auf Initiative der Landesregierung Raucherkneipen die rote Karte als Wahllokal gezeigt.