In Hattingen nimmt die private Nachhilfe zu. Auch in Grundschulen wird bereits massiv gefördert.
Für alle gibt es ein Angebot: Schlechte Schüler sollen den Anschluss finden, mittelmäßige zu guten werden und die besten sollen besser bleiben. „Nachhilfe – und alles wird gut.” In Hattingen blüht wie bundesweit das gute Geschäft mit den schlechten Noten.
Wenn auch die Studie nicht schockt, stutzig macht sie schon: In Deutschland nimmt mehr als eine Million Schüler regelmäßig bezahlte Nachhilfe. Bis zu 1,5 Milliarden Euro geben ihre Eltern dafür im Jahr aus. Das ist ein eigener volkswirtschaftlicher Zweig – und kein dünner. Die Ergebnisse der Bildungsforscher Annemarie und Klaus Klemm lassen so manchen die Augen reiben und verwundert die Frage stellen: War das immer schon so?
„Die Nachfrage hat deutlich zugenommen”, sagt eine, die es wissen muss. Dagmar Gdanitz leitet den Studienkreis, eines von drei privaten Nachhilfeinstituten in Hattingen, und hat auch eine Erklärung: „Das liegt an der wirtschaftlichen Entwicklung. Selbst für einfache Berufe braucht man heute einen guten Schulabschluss.” Zudem schickten Eltern ihre Kinder im Zweifel auf die „bessere Schule.”
Ein Phänomen, das auch Peter Kaeseler erkannt hat. Der Schulleiter der Grundschule Holthausen weiß: „Man will immer die beste Schule für sein Kind. Das ist das Gymnasium. Man sucht aber nicht die optimale Schule.” Die sei möglicherweise eine Haupt-, Real- oder Gesamtschule. „Manche Kinder sind auf dem Gymnasium einfach überfordert”, sagt Kaeseler: „Und dann geht man zum Nachhilfelehrer.”
Und dort bleiben viele: „80 Prozent der Schüler kommen mindestens ein Jahr lang zu uns”, sagt Eva-Maria Walther vom Nachhilfeinstitut Back 2 School. Eine Entwicklung, die Heinz Niggemann, Rektor des Gymnasiums Waldstraße, kritisch sieht: „Ich bin ein Gegner von langfristiger Nachhilfe.” Lediglich in Einzelfällen könnte eine dauerhafte Betreuung durch ein Institut nötig und damit sinnvoll sein.
Das sieht man dort erwartungsgemäß anders: „Wir fangen Fehler im Schulsystem auf”, ist Eva-Maria Walther von Back 2 School überzeugt. Auf die Frage, ob die Schulen die Förderungen schwächerer Schüler nicht selbst leisten können, antwortet sie sofort: „Das tun sie ja nicht.” Zu groß seien die Klassen, zu wenig gezielt die Förderung. Anja Ginzel von der Hattinger Schülerhilfe sagt unumwunden: „Wir profitieren von den Schwächen der Schule.” Hätte man erst einmal „finnische Verhältnisse”, „braucht man irgendwann keine Nachhilfe mehr.”
Noch ist die Nachfrage jedoch groß, auch bei ehemaligen Lehrern, Schülern und Studenten. Vor allem die privaten Institute haben aber aktuell viel Zulauf: „Nach den Zwischenzeugnissen steht das Telefon nicht still”, weiß Eva-Maria Walther. Besonders im pubertären Alter, in den Klassen sieben bis zehn, ist Nachhilfe gefragt: Es kommen aber nicht nur die schwachen, sondern auch mittelmäßige Schüler. „Und es gibt gute Schüler, die gut bleiben wollen oder in der Schule einfach unterfordert sind”, sagt Walther. Der private Unterricht heißt dann nicht mehr Nachhilfe, sondern Förderung.
Doch auch hier entstehen Probleme: „Es kommt im Extremfall vor, dass sich Schüler im Unterricht nicht mehr richtig konzentrieren”, sagt Gerd Buschhaus, Rektor am Gymnasium Holthausen: „Die denken sich: Das machen wir ja später bei der Nachhilfe nochmal ausführlich.” Buschhaus hält das für eine Fehlentwicklung – und ist damit nicht alleine.
Besonders kritisch sehen viele Lehrer, dass Nachhilfe auch an Grundschulen selbstverständlich wird: „Ab der dritten Klasse fängt das an”, sagt Ilka Ginzel von der Schülerhilfe: „Seit die Beurteilungen der Lehrer über die weiterführende Schule entscheiden, kriegen die Eltern Angst.”
Grundschulrektor Peter Kaeseler hat seine These von der „besten” und der „optimalen” Schule für Kinder und den oft überzogenen Ehrgeiz ihrer Eltern im Kopf, wenn er warnt: „Nachhilfe hat in der Grundschule nichts verloren.” Und Gerd Buschhaus stellt fest: „Schüler haben heute schon oft 34 Schulstunden in der Woche” – und anschließend die Frage: Wenn dann noch die Nachhilfe dazukommt, wo bleibt denn da das Kind?”
Schüler helfen Schülern
Es sind strukturelle Schwächen im Schulsystem, die den Instituten die Nachhilfeschüler zutreiben – dieser These widerspricht kaum ein Lehrer oder Schulleiter. „Aber wir können der Entwicklung etwas entgegensetzten”, sagt der Rektor des Gymnasiums Holthausen, Gerd Buschhaus, und meint das Nachhilfe-Konzept: „Schüler helfen Schülern”.
Denn Schule hat auch Stärken: Ab der zehnten Klasse helfen ältere und bessere Schüler ihren jüngeren oder schwächeren Mitschülern. „Das ist ein sehr effektives System”, sagt Buschhaus und lobt: „Die Schüler machen das für kleines Geld und einen Vermerk im Zeugnis.”
Die Hausaufgabenhilfe und der Förderunterricht sei auch grundsätzlich ein Gewinn: „Es gibt eine gute Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern – alle haben etwas davon.” So sieht das auch Heinz Niggemann vom Gymnasium Waldstraße, wo es zusätzlich zum „Schüler helfen Schülern”-Projekt noch ein ähnliches und doch anderes Konzept gibt: „Wenn wir freie Lehrer-Kapazitäten haben, bieten wir in der siebten Stunde Förderunterricht an.” Mit Erfolg: „Von den Fünfen, die vorher auf dem Zeugnis standen, war hinterher keine mehr übrig.”
Die Förderung unter dem Schuldach hat viele Vorteile – die Nachhilfeinstitute sehen jedoch Nachteile: Das nehme ihnen nicht die Schüler weg, betont Dagmar Gdanitz, aber: „Wir kriegen so die Härtefälle, wo die Lücken sehr groß sind.”