Hattingen/Essen. Post-Vac und Long-Covid gibt es erst seit der Corona-Pandemie. Ein Neurologe hofft, dass sich das Nachbeben von Covid“ bald legt. Die Details.

Post-Vac und Long-/Post-Covid: Neurologe Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz hofft, „dass wir bald in ruhigere Fahrwasser kommen“ und „dass sich das Nachbeben von Covid“ legt.

Ja, sagt der Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen, er habe schwere Corona-Impfnebenwirkungen wie Sinusvenenthrombosen – besonders durch Vektor-Impfstoffe, Rückenmarks- und Nervenentzündungen gesehen. „Es sind auch Patienten gestorben. In diesem schweren Fällen müssen die Betroffenen und ihre Familien entschädigt werden. Und zwar schnell und großzügig.“

Post-Vac und Long-Covid: Professor hofft, dass sich „Nachbeben von Covid“ legt

Aber: „Das ist sehr selten. Die Impfung ist sehr sicher.“ Das Paul-Ehrlich-Institut meldet, dass mehr als 50 Prozent aller weltweit registrierten Impfnebenwirkungen-Verdachtsfälle aus Deutschland berichtet wurden. „Dabei ist zu beachten, dass in Deutschland keineswegs 50 Prozent aller Impfdosen weltweit verabreicht wurden“, heißt es in dem Bericht. Das macht Kleinschnitz stutzig: „Post-Vac ist ein sehr deutsches Phänomen.“ Die Symptome seien ähnlich wie Post-Covid, auch Long-Covid genannt. Kleinschnitz spricht von unspezifischen Beschwerden, von generalisierten Schmerzen, Brain-Fog, Erschöpfungszuständen, kognitiven Problemen.

Ambulanzen und Selbsthilfe

Laut Robert Koch-Institut (RKI) gehören Schmerzen an der Einstichstelle, Ermüdung, Kopfschmerzen, Muskelschmerzen und Schüttelfrost zu den normalen Impfreaktionen auf eine Impfung mit den in Deutschland zugelassenen Covid-19-Impfstoffen. Schwere Nebenwirkungen seien selten.

Das Paul-Ehrlich-Institut weist darauf hin, dass keine so genannten Langzeitnebenwirkungen, die erst Jahre nach der Impfung auftreten, zu befürchten sind.

Deutschlandweit gibt es bisher nur wenige Anlaufstellen für Patienten mit Verdacht auf das Post-Vac-Syndrom. Dazu zählen eine Spezialambulanz mit Post-Vax-Sprechstunde sowie Post-Covid-Ambulanz am Universitätsklinikum Marburg sowie die neurologische Post-COVID-19-Sprechstunde und eine Post-Covid-Fatigue Sprechstunde an der Charité in Berlin. Am Uniklinikum Essen gibt es eine Post-Covid-Ambulanz.

CoVeRSE (corona vaccines very rare side effects) unterstützt Selbsthilfegruppen in Deutschland hinsichtlich der Betroffenenarbeit bezüglich der Covid-19 Impfkomplikationen/ Impfschäden, dem so genannten „Post Vaccine Syndrom“. Info: www.info-coverse.com

Zu Long-Covid bietet das Bundesgesundheitsministerium ein Info-Angebot auf der Homepage www.bmg-longcovid.de. Selbsthilfegruppen finden sich auf der Long-Covid-Plattform www.long-covid-plattform.de der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.

Indes: Für Post-Vac gebe es keine Biomarker, kein positives Diagnosekriterium. Er betont, dass Symptome, die mit langem zeitlichen Abstand zur Impfung auftreten würden, nicht durch die Impfung bedingt sein könnten. „Es müsste auch einen zeitlichen Zusammenhang geben.“

Keine medizinisch definierte Bezeichnung einer Erkrankung

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erklärt, dass Post-Vac keine medizinisch definierte Bezeichnung einer Erkrankung darstelle. Unter dem Begriff werden diverse länger anhaltende Beschwerden zusammengefasst, die auch für Long-Covid angegeben werden wie chronisches Erschöpfungssyndrom (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome ME/CFS), posturales Tachykardiesyndrom (POTS) oder Unwohlsein nach Belastung (Postexertional Malaise PEM). Das Phänomen sei noch wenig erforscht.

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Kleinschnitz beschreibt, dass er täglich Menschen erlebe, die nach einer ursprünglichen Ursache, nach der Kausalität suchen würden. „Eine Monokausalität ist aber selten.“ Und eine Kausalität zwischen Impfung und Beschwerden sei nach wie vor schwer bis gar nicht zu beweisen. „Es sagt ja auch nicht jemand, der nach der Impfung schwanger wird, dass das mit der Impfung zu tun hat. Ein Ereignis mit einem anderen zu verbinden ist immer sehr schwierig.“

„Leidensdruck der Betroffenen ist riesig. Die Beschwerden sind da.“

Dabei streitet er mitnichten ab, dass die unter Post-Vac und Long-Covid geführten Menschen nicht Beschwerden hätten. „Der Leidensdruck dieser Menschen ist riesig“, weiß er. „Diese Patienten simulieren nicht, sie haben diese Beschwerden.“ Ihn ärgert, dass die Betroffenen privat oft viel Geld für nicht gesicherte Therapien ausgeben würden, die „nicht helfen“. Da würde er sich auch ein Durchgreifen der Ärztekammer wünschen.

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Kleinschnitz plädiert dafür, bei Betroffenen zunächst eine komplette Organdiagnostik durchzuführen. „Dabei kommt nämlich manchmal Erstaunliches heraus. Wir haben Patienten mit Hirnhautentzündungen, Epilepsien, Multipler Sklerose, Rheuma rausgefischt.“

Zunächst organische Störungen ausschließen

Sind organische Störungen ausgeschlossen, müsse aber darüber nachgedacht werden, ob nicht eine funktionelle Störung vorliege, eine Konversionsstörung. „Das meint, dass sich ein seelischer Konflikt, der vielleicht auch nur unterbewusst da ist, sich in körperlichen Symptomen ausdrückt.“ Hier, so sagt er, müsse schnell gehandelt werden, damit sich die Leiden nicht chronifizierten. Den Patienten können geholfen werden, beispielsweise mit Verhaltenstherapie, Krankengymnastik.

Doch viele Patienten lehnten es psychologische Gründe als Ursachen noch ab. „Dabei haben wir schon alles gesehen, Menschen, die plötzlich stumm waren, die bizarre Bewegungsstörungen zeigten.“ Das sei ein spannendes Thema, das noch nicht genug Beachtung fände. Ab sofort gebe es darum an seiner Klinik jetzt einen Oberarzt mit dem Schwerpunkt funktionelle Störung. „Wir machen uns das nicht leicht. Wir untersuchen erst gründlich, dann schaut ein Kollege auch noch einmal – und erst dann überlegen wir in die Richtung“, sagt er.

Paul-Ehrlich-Institut erhebt Verdachtsfälle

Kampagnen wie die aktuell laufende zu Long-Covid hält Kleinschnitz für kontraproduktiv. Denn es zeige sich, dass Menschen vermehrt mit Symptomen von Krankheiten kämen, die „medial im Fokus sind“. Schuld sieht er auch bei der Ärzteschaft: „Wir haben als Ärzte bisher zu wenig Vernunft dagegen gehalten.“

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Das Paul-Ehrlich-Institut hat seit dem Beginn der Schutzimpfungen gegen das Coronavirus Ende 2020 bislang 1547 Meldungen über Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen erhalten, die als Long-/Post-COVID-ähnlich, chronisches Erschöpfungssyndrom (Chronic Fatigue Syndrome / Myalgische Enzephalomyelitis, CFS/ME), posturales Tachykardiesyndrom (POTS) einschließlich der Beschwerden, die als Post-exertional Malaise (PEM, Unwohlsein nach Belastung) bezeichnet werden, oder Beschwerden, die als „Post-Vac“ bezeichnet werden. Daraus ergebe sich eine Melderate von weniger als einem Verdachtsfall pro 100.000 Impfungen (0,73/100.000). Laut Paul-Ehrlich-Institut gibt es keinen medizinisch plausiblen Hinweis auf einen direkten, ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Auftreten der oben genannten Long-/Post-COVID-ähnlichen Beschwerden und einer COVID-19-Impfung.