Hattingen. Weil das Jugendamt Hattingen eine Schulbegleitung für autistische Kinder ablehnt oder Stunden kürzt, klagen jetzt drei Eltern. Die Hintergründe.

Drei Eltern klagen, weil das Jugendamt keine Schulbegleitung für ihre autistischen Kinder bewilligt oder die Stunden gekürzt hat. Auch eine Autismus-Therapie hält es oft nicht für notwendig. Das entsetzt die Eltern, weil Gutachten und Empfehlungen von Fachärzten und vom Kreisgesundheitsamt ignoriert würden. Die Stadt sieht den Klagen gelassen entgegen.

Sven Schmelzings Sohn (8) besucht die dritte Klasse der Grundschule Holthausen. Seit Dezember 2021 steht die Diagnose: atypischer Autismus, ADHS, also ein Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, und AVWS, das ist eine auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung. Anfang 2022 stellte die Familie den Antrag auf Integrationsassistenz, die Ablehnung kam Ende April.

Jugendamt Hattingen lehnt Schulbegleitung für zwei autistische Kinder ab: Eltern klagen

Das Jugendamt sieht keine Teilhabebeeinträchtigung gegeben – und empfiehlt, die Beratung einer Familien- und Erziehungsberatungsstelle in Anspruch zu nehmen. Dabei urteilt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Gesundheitsamtes: „Aufgrund des Autismus liegt eine (drohende) seelische Behinderung vor.“ Damit zähle das Kind zum Personenkreis nach Paragraph 35 a SGB VIII, der die Eingliederungshilfe für Kinder seelischer oder drohender seelischer Behinderung regelt. Eine Inklusionsassistenz sei „sehr zu empfehlen“. Sven Schmelzing hat inzwischen einen Anwalt eingeschaltet. „Wir sind leider kein Einzelfall“, berichtet er.

Ebenso enttäuscht über das Vorgehen des Jugendamtes ist Familie Siepermann aus Niederwenigern. Sie hatte bereits in der Corona-Homeschooling-Zeit Probleme, die Inklusionshilfe für daheim zu erhalten. Jetzt fühlt sie sich der Willkür des Jugendamtes ausgesetzt. Um sechs Stunden reduziert hat das Jugendamt die Schulbegleitung des Sohnes (13) pro Woche. „Mir war mündlich zugesagt worden, dass das nur zur Probe für drei Monate sein soll, doch dann kam der Bescheid über sechs Monate. Die Sozialarbeiterin meint, sich über ärztliche Gutachten hinweg zu setzen und Helfer-Stunden zu kürzen unter dem Vorwand, unser Sohn solle selbstständiger werden. Dabei verkennt sie völlig, dass Autismus sich nicht ausschleicht“, so Claudia Siepermann, die den Umgang des Jugendamtes mit den Familien kritisiert. „Man fühlt sich inzwischen wie ein Bittsteller, das war früher anders.“

Das Wort im Mund umgedreht

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Seit einigen Wochen besucht sie eine Selbsthilfegruppe für Eltern autistischer Kinder. Dort lernte sie Ashley Corpe-Höffken kennen. Deren Sohn ist sechs Jahre alt. Atypischer Autismus und ADHS lautet die Diagnose. „Wir haben beim Versorgungsamt 50 Prozent bekommen und er gilt als hilflos, braucht Begleitung.“ Sie sei beim Jugendamt mit den Worten begrüßt worden, dass sie doch sicher keinen Schulbegleiter beantragen wolle. Da habe sie noch gesagt, dass sie hoffe, dass er sie nicht brauche, es aber wohl leider notwendig sei. „Man hat mir das Wort im Mund umgedreht.“ Und sie gedrängt, beim HAZ-Programm soziale Gruppenarbeit zu hospitieren. „Das mag ja gut sein, aber das ist doch keine Autismus-Therapie und davon hat er keine Hilfe in der Schule“, sagt Ashley Corpe-Höffken. Schon mündlich sei ihr gesagt worden, dass der Antrag abgelehnt würde. „Er bekomme ja Ergotherapie und mache da gute Fortschritte.“ Die Ablehnung sei auch erfolgt mit dem Hinweis, ihr Sohn sei in einem unbekannten Schulsystem. „Er besucht die Rudolf-Steiner-Schule in Bochum“, sagt die Bredenscheiderin.

„Eine Schulassistenz für eine private Schule zu bekommen, ist häufig schwieriger“, weiß Petra Rohde, Fachkraft Teilhabeberatung der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung EN-Kreis“ von „Der Paritätische EN-Ruhr-Kreis“ (EUTB) und Leiterin der Selbsthilfegruppe von Eltern autistischer Kinder.

Recht auf Teilhabe an Bildung

Erschreckend findet Rohde, dass sie von vielen Eltern aus Hattingen gehört habe, dass ihre Anträge abgelehnt worden seien. „Es gibt ein Recht auf Teilhabe an Bildung. Für die Eingliederungshilfe reicht eine Diagnose aus, um einen Bedarf an Unterstützung zu haben. Autistische Kinder haben aufgrund der Diagnose einen Anspruch auf Eingliederungshilfe, die kann ganz unterschiedlich ausfallen. Das kann ein Integrationshelfer sein oder auch als Autismus-Therapie. Wobei auch beides gleichzeitig möglich ist, das richtet sich nach dem individuellen Bedarf.“

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„Wir möchten keine schlechte Stimmung gegen das Jugendamt machen“, sagt Siepermann. Aber es gehe um die Kinder, um deren Förderung, damit sie an der Gesellschaft teilhaben könnten, später einen Beruf ergreifen könnten. „Dann muss man doch jetzt helfen, wo noch viel erreicht werden kann.“

Vater greift nach jedem Strohhalm

Schmelzing greift inzwischen nach jedem Strohhalm. „Unser Sohn braucht umgehend Hilfe“: Eine Politikerin aus Hattingen habe sich bei ihm gemeldet, ihr habe er den Vorgang zukommen lassen.

Matthias Tacke, Dezernent für Schule, Jugend, Soziales, betont: „Es gibt rechtlich kein Recht auf eine Schulbegleitung, sondern auf Eingliederungshilfe. Das Jugendamt muss prüfen, welche Hilfe sinnvoll ist und welches Hilfsangebot unterbreitet wir. Die Fachkompetenz sitzt im Jugendamt, das hat der Gesetzgeber so vorgesehen. Wir gucken uns jeden Fall sehr genau an. Wir haben Standards.“ Bisher angestrebte Klagen hätten das Jugendamt bestätigt. „Es geistert herum, dass es bei der Stadt Hattingen Order gibt, solche Anträge generell nicht zu bewilligen, um zu sparen. Das stimmt nicht.“

Kritikpunkte

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Schmelzing sagt: „Die Aussage von Herrn Tacke ist schön und gut, aber so nicht korrekt.“ Mit dem Gutachten bestehe ein Anspruch. „Die Eingliederungshilfe für Kinder mit solchen Diagnosen wird über die Inklusionskraft sichergestellt. Gegenstand unserer Klage ist außerdem, dass das Jugendamt bei der Überprüfung sich nicht an die gesetzlichen Regularien hält, z.B. bei der Überprüfung des Gesundheitszustandes des Kindes eine dafür notwendige Fachkraft hinzuzuziehen, was weder beim Besuch im Jugendamt, noch bei der Schulhospitation der Fall war.“

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Insgesamt zählt die Stadt 48 Fälle gemäß Paragraf §35a SGB VIII und davon haben 24 Kinder einen Integrationshelfer. „Wir haben derzeit fünf Ablehnungen, bei denen wir im Widerspruchsverfahren sind. Allerdings geht es dabei nicht um eine gänzliche Ablehnung einer Leistung, sondern darum, dass wir einen anderen Bedarf sehen beziehungsweise eine andere Hilfeart für zielführender halten“, sagt Stadtsprecherin Jessica Krystek.