Hattingen. Drei der fünf Ratsfraktionschefs in Hattingen lehnen Meinungsbildung nach dem Zufallsprinzip ab. Das sind ihre Argumente gegen Bürgerräte.
Würde über die Einführung von Bürgerräten im Rat der Stadt Hattingen abgestimmt – sie würden keine Mehrheit finden. Die Fraktionsvorsitzenden von CDU, Grünen und FDP sprechen sich gegen die neue Form der Meinungsbildung aus. Nur SPD und „Die Partei“ sind dafür. Würden sich alle Stadtverordneten hinter ihre Fraktionschef stellen, gäbe es im Stadtrat 19 Stimmen für die Bürgerräte, aber 29 dagegen.
Im April hat die Enquetekommission „Partizipation und Subsidiarität“ des Landtags ihren Abschlussbericht vorgelegt. Auf 140 Seiten listen der Hattinger SPD-Landtagsabgeordnete Rainer Bovermann und zwölf weitere Kommissionsmitglieder 100 Handlungsempfehlungen auf, wie man der Vertrauenskrise der Parlamentarischen Demokratie begegnen, Bürgerinnen und Bürger besser einbinden kann.
Meinungen der Menschen kennen
Eine davon: Bürgerräte, die zu bestimmten Themen nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzt werden. „In den bisherigen Mitwirkungsorganen sitzen ja oft immer dieselben Verdächtigen, Interessengruppen, Lobbyisten“, sagt Bovermann. „Das müssen wir unbedingt aufbrechen.“
So sehen das auch die Sozialdemokraten in Hattingen. „Bürgerräte sind das Gebot der Stunde“, sagt Fraktionschef Achim Paas. „Wir müssen die Meinungen der Menschen kennen, für die wir Politik machen. Zehn Prozent der Bevölkerung zu einem konkreten Thema befragen – besser geht es nicht.“
Meist parteinah oder vereinsnah
Der aktuelle Streit um die Erweiterung der Gesamtschule in Welper sei ein gutes Argument für Bürgerräte. Paas: „Meinungen bei Menschen einzuholen, die nicht direkt betroffen sind, kann bei der Abwägung nur helfen.“
Aus dem Stimmungstief herauskommen
„Die Vertrauenskrise der Parlamentarischen Demokratie hat ja schon vor Corona begonnen. Die Pandemie hat sie allerdings noch verstärkt“, sagt Rainer Bovermann. Der 63-Jährige vertritt die SPD seit 2005 im Landtag und sieht als Gewinner von mehr Demokratie nicht nur Bürgerinnen und Bürger. „Wir als politische Parteien werden ja gerade in Kollektivhaft genommen, und das ärgert uns. Wir müssen aus dem Stimmungstief herauskommen.“
Neben den Bürgerräten setzt sich die Kommission für das Wahlalter mit 16, die Stärkung der Kinder- und Jugendparlamente, mehr Mitbestimmung in Kita und Schule sowie ein Wahlrecht für Drittstaatler ein.
Auch Martin Wagner findet Bürgerräte super. „Die stehen bei uns im Wahlprogramm“, betont der Fraktionsvorsitzende der Partei „Die Partei“. Bürgerräte seien ein tolles Instrument, um mehr Bürgermeinungen hereinzuholen. Gerade das Zufallsprinzip ist sehr wichtig. Wagner: „Bei Informationsveranstaltungen kommen ja immer dieselben Menschen, meist parteinah oder vereinsnah. Wir sollten auch mal andere Meinungen hören.“
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Das sieht Gilbert Gratzel völlig anders. Der Fraktionschef der FDP lehnt Bürgerräte strikt ab und sagt: „Wir haben einen Stadtrat und dürfen keine Parallelstrukturen aufbauen. Das verwirrt nur.“
Keine strukturelle Sicherheit in der Abfrage
Grundsätzlich mehr Bürgerbeteiligung wünscht sich Oliver Degner von den Grünen. „Wir müssen dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger informiert sind und dann auch gehört werden“, fordert der Fraktionschef.
Bürgerräte nach dem Zufallsprinzip auszuwählen, hält er aber für falsch. „Sie sind nicht repräsentativ, können das Meinungsbild verfälschen und bieten keine strukturelle Sicherheit in der Abfrage. Zufall kann kein Maßstab sein. Wir Stadträte sind demokratisch gewählt und kommen mitten aus der Gesellschaft.“
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Ähnlich argumentiert Gerhard Nörenberg. „Der Rat ist ein Spiegelbild der Gesellschaft“, sagt der CDU-Fraktionsvorsitzende. Und fragt: „Da sollen Ehrenamtliche plötzlich 360 Seiten Gutachten lesen, nur weil sie angerufen wurden? Wer ein Thema oder ein Problem hat, kann zu uns kommen und mitreden, ohne gleich Mitglied der CDU werden zu müssen.“