Hattingen. Paul-Gerhard Wagner berichtet, wie er die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in Hattingen erlebte – zwischen Feldjägern und seiner Familie.

Es war vor 75 Jahren: Als Achtjähriger erlebte ich die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges unmittelbar in täglichen und nächtlichen Kriegshandlungen mit Luftangriffen, Brandbomben, Sprengbomben und Tiefflieger-Angriffen. Wir wohnten zu diesem Zeitpunkt in Niederholthausen bei Hattingen/Ruhr, in dem Haus Kratzmühle, einer Getreidemühle, die meinem Onkel gehörte und von ihm betrieben wurde.

Paul-Gerhard Wagner erlebte das Kriegsende in Hattingen.
Paul-Gerhard Wagner erlebte das Kriegsende in Hattingen. © PGW

Die Mühle war am Wald gelegen, geschützt. Der Onkel war 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden. Die Tante führte die Mühle weiter. Anfang des Jahres 1945 hatte sich die Wehrmacht mit einer Fernmeldestation (Vermittlung), den Feldjägern (Kettenhunde) und einer Stabstelle zwangsweise eingemietet – natürlich ohne Mietzins. Die Kornspeicher, Lagerräume, Wohnräume und das Dachgeschoss waren mit militärischen Gerätschaften belegt, wobei ein Kabel-Wirrwarr dazu verlegt war.

Gefahr und Unberechenbarkeit im Krieg

Uns, den Bewohnern der Mühle, mit mir, meiner Mutter, meiner Großmutter und zwei Tanten, wurden vier Kammern und eine Küche überlassen. Dazu kam ein Wasch- und Haushaltsraum. Das WC bestand aus dem früher bekannten Plumpsklo.

Zur Person

Paul-Gerhard Wagner besuchte ab 1941 die Schule. „Kurz nach der Einschulung im Herbst wurde die Klasse nach Pommern evakuiert – eine für mich große Wanderschaft in Deutschland bis Juli 1943“, berichtet er. Danach ging er in die Schule in Bredenscheid.

Ab 1960 arbeitete er in Rheinland-Pfalz, machte sich acht Jahre später mit der Gründung eines Handwerksunternehmens selbstständig. Seitdem hatte Wagner verschiedene Funktionen in der Handwerksorganisation und Fachverbänden. Ehrenamtlich engagierte er sich unter anderem in der Kommunalpolitik und am Oberverwaltungsgericht Koblenz als ehrenamtlicher Richter, als Vorstand in Sport- und Kulturvereinen. Er erhielt 2012 die Verdienstmedaille des Landes Rheinland-Pfalz.

Die ständigen täglichen Kriegshandlungen bedeuteten Gefahr und Unberechenbarkeit im Hinblick auf die anrückenden alliierten Streitkräfte. Der so genannte Ruhrkessel, die kämpfenden deutschen Truppen,wurden durch das alliierte Militär täglich mehr eingeschnürt. Der Raum für die deutschen Soldaten, die vielen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in den deutschen Lagern sowie die in teils ausgebombten und zerstörten Häusern wohnende Bevölkerung wurde enger und unverträglicher.

Rationierung und Bombenangriffe

Paul-Gerhard und Ulrike Wagner auf Pferd Hektor, das 1940 als Zugpferd für den Transport von Mehl und Futtermitteln diente. Das Pferd wurde 1941 vom Militär eingezogen. 
Paul-Gerhard und Ulrike Wagner auf Pferd Hektor, das 1940 als Zugpferd für den Transport von Mehl und Futtermitteln diente. Das Pferd wurde 1941 vom Militär eingezogen.  © PGW

Die Versorgung für den täglichen Bedarf gab es auf Karten und durch rationierte Zuweisungen. Die Tiefflieger- und Bombenangriffe vermittelten Untergangsstimmung. Dazu sah man in den Wäldern zurückziehende Soldaten auf der Flucht.

Der Großdeutsche Rundfunk verkündete über die Volksempfänger stündlich Sondermeldungen und Durchhalte-Appelle. Dazu die Ankündigung einer Wunderwaffe und ein eintretender Endsieg über den Feind.

NSDAP-Lieder und Lili Marleen

Die damit verbundene Begleitmusik neben dem nationalen martialen NSDAP-Liedgut erklang persönlich und wehmütig mit den Liedern wie „Davon geht die Welt nicht unter“ oder „Lili Marleen“.

Die täglich abgeworfenen Flugblätter aus den Jagdflugzeugen und die Radiosendungen über den Sender BBC forderten zur Kapitulation auf, um weiteren Schaden und den Tod der Soldaten und der Bevölkerung zu vermeiden.

Auflösung der Wehrmacht

Die Familie um Müllermeister Georg Jäger (l.) und Familie Wagner aus der Kratzmühle. Paul-Gerhard Wagner war damals noch ein Kind.  
Die Familie um Müllermeister Georg Jäger (l.) und Familie Wagner aus der Kratzmühle. Paul-Gerhard Wagner war damals noch ein Kind.   © PGW

Auflösungserscheinungen der Wehrmacht erlebte ich in unserem Haus und war damals geschockt. Zwei Offiziere des Stabes, denen ich vorher täglich begegnet war, traten an einem Samstagabend in zivil auf, verabschiedeten sich und verschwanden im nahen Wald in zivilen Anzügen meines Vaters. Mein Vater war Soldat an der Westfront. Es waren die selben Männer (Offiziere), die Tage zuvor junge führungslose Soldaten, die von der Feld-Gendarmerie aufgegriffen wurden, verhört hatten und sie der Feigheit vor dem Feind und der versuchten Fahnenflucht bezichtigt hatten. Dabei hatte ich zusehen müssen.