Hattingen. Scarlett Neumann aus Hattingen leidet am seltenen Tolosa-Hunt-Syndrom. Medizinisches Cannabis könnte helfen – der Medizinische Dienst lehnt ab.
Scarlett Neumann kämpft – um ihr Augenlicht und gegen eine Entscheidung des Medizinischen Dienstes. Die Künstlerin räumt ihr Atelier in Welper aus. Nicht mehr arbeiten zu können wie früher, nicht mehr belastbar zu sein, das tut weh. Schuld an dieser Situation ist die Augenerkrankung, die Tolosa-Hunt-Syndrom heißt. Die Gefahr, zu erblinden, ist groß. „Und die Medikamente, die ich brauche, hat der Medizinische Dienst abgelehnt“.
Erste Symptome: doppelt sehen
„Ich bin ein großes Kind geblieben“, sagt die 60-Jährige und strahlt. Aber Lachen und Weinen liegen mittlerweile nah beieinander. Nachdem die gelernte Zahntechnikerin, die später als Beraterin für Krankenkassen arbeitete, sich ihren Traum vom Bildhauerstudium erfüllt hatte, lief bei ihr alles gut. Man kennt sie gut gelaunt und strahlend, sie war Karnevalsprinzessin, „ich hatte immer Mut und Visionen“, sagt sie.
Diese Energie hat sie mittlerweile nicht mehr. Die Krankheit beginnt vor zwei Jahren. Schleichend. Bei einer Gartenparty schaut sie in den Himmel und sagt: „Guckt mal, da oben sind ja zwei Monde, das ist ja verrückt.“ Die Partygäste fragen sie, ob sie viel getrunken habe. Denn zwei Monde sieht nur sie. Dann bekommt sie Anfang 2018 Dauer-Kopfschmerzen. Hinzu kommt eine Entzündung am linken Auge. Der Arzt sagt, eine alte Verletzung sei wohl wieder aufgebrochen.
Kopfschmerzen, Krämpfe, Kribbeln
Die Entzündung wird erfolgreich behandelt, doch zu den ständigen Kopfschmerzen kommen fürchterliche Schmerzen in der Augenhöhle. Es folgen Wadenkrämpfe, der linke Arm kribbelt. Von Februar 2018 an jagt ein Arztbesuch den nächsten. Der Hausarzt verschreibt ihr eine Serie von Medikamenten, eine Blutuntersuchung macht er nicht.
Seltene Erkrankungen
Bei dem Tolosa-Hunt-Syndrom handelt es sich um eine Erkrankung, die einer von einer Million Menschen bekommt. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind.
Zurzeit werden 8000 Erkrankungen als selten eingestuft. Schätzungen zufolge leiden etwa vier Millionen Menschen in Deutschland an einer seltenen Erkrankung. Für sie gibt es das Netzwerk www.achse-online.de aus Betroffenen, Freunden, Förderern, Ärzten und Beratern aus dem Gesundheitswesen.
„Dann lief ständig meine Nase, ich empfand immer einen stechenden Geruch wie bei Essig.“ Also geht sie zum Hals-Nasen-Ohrenarzt, die Odyssee nimmt kein Ende. Zahnarzt, Neurologe, Notfallambulanz, eine Augenärztin rät Neumann, schwarzen Tee zu kochen und die Beutel auf die Augen zu legen. Oft bekommt sie von Ärzten ein „mitleidiges, verständnisloses Lächeln.“
Tolosa-Hunt-Syndrom erst spät diagnostiziert
Als das Doppelsehen Dauerzustand wird, das rechte Auge gelähmt und nicht mehr unter Kontrolle ist, sitzt sie wie ein Häufchen Elend zu Hause. Eine Freundin fährt sie kurzentschlossen zum Bergmannsheil nach Bochum. Dort wird die Diagnose gestellt: Tolosa-Hunt-Syndrom. „Eine Entzündung hinter dem Auge. Ich bin mit Kortison vollgepumpt worden, Schmerzen und Schwellungen nahmen ab. Aber nach der Entlassung ging das Spiel von vorne los“, schildert die Bildhauerin.
Niemand wisse, wie sie weiter behandelt werden soll. „Es gab immer nur Kortison, ich war aufgebläht, kam nicht mehr in den Tritt. Nachts konnte ich nicht schlafen, meine Hände schienen nichts mehr behalten zu wollen. Gläser und Tassen flogen durch die Luft, immer öfter hatte ich unkontrollierte Bewegungen.“
Medizinisches Cannabis als Alternative
Sie suchte Wochen und Monate im Internet, von Europa bis Singapur hat sie die wenigen Fälle dieser Krankheit recherchiert. Dann sagt der Chefarzt einer Augenklinik, sie dürfe Kortison auf keinen Fall mehr nehmen. Der Meinung sind auch eine Schmerzambulanz und ein Psychotherapeut. Denn bei jedem neuen Schub, gibt es wieder mehr Kortison und das kann hoch dosiert zur Erblindung führen. Ein Drittel ihrer Sehnerven sind bereits abgestorben.
Die einzige Alternative, sagt ein Arzt, sei eine Behandlung mit medizinischem Cannabis. „Das Medikament ist seit 2018 zugelassen, wurde aber bei mir vom Medizinischen Dienst der Krankenkasse (MdK) abgelehnt. Vermutlich, weil es zu teuer erscheint. Aber, was meine 50 bis 60 Arzttermine bisher gekostet haben und was die Behandlungen weiter kosten, darüber macht man sich offenbar keine Gedanken“, sagt die Künstlerin verzweifelt. Gegen den Bescheid des MdK hat sie Beschwerde eingelegt. Ende offen.