Hattingen. Ihre Erinnerungen an den Weltkrieg auf vier DIN-A-4-Seiten: „Ich gehöre doch zu den letzten Zeitzeugen“, sagt die Hattingerin Christel Thormann.
In diesem Jahr ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges 80 Jahre her. An den kann sich Christel Thormann (87) noch gut erinnern. Ihre Geschichte hat sie jetzt auf vier DIN-A4-Seiten sachlich und nüchtern und gerade darum so beeindruckend zu Papier gebracht. Ihr Resümee: „Hitler hat mir zehn Jahre meines Lebens genommen.“ Denn auch wenn der Krieg 1945 endete – nach Deutschland kam Christel Thormann erst 1949 zurück. Ein weiterer Grund, ihre Geschichte aufzuschreiben, war: „Ich gehöre doch zu den letzten Zeitzeugen.“
Das hat ihr eine Frau aus Schneidmühl klar gemacht, die sie bei einer Reise nach Bad Kissingen traf, berichtet Christel Thormann, deren Mädchenname Hagel war. Acht Jahre war sie alt, „da hörte man vom Krieg erzählen, konnte sich aber nichts darunter vorstellen“. Da wohnte sie in Leslau an der Weichsel. Der Vater betrieb ein Fahrradgeschäft. Er blieb in der Werkstatt, als die Mutter mit ihren drei Kindern aufs Land ging. „Als wir wiederkamen, war unser Haus gleich am Fluss nicht mehr bewohnbar.“
Schulen wurden zu Lazaretten umfunktioniert
Christel Thormann erinnert sich an die schreckliche Zeit: Juden wohnten in einem Ghetto. „Sie durften nur im Rinnstein gehen.“ Irgendwann brannte das Ghetto. „Man hat uns gesagt, dass die Juden ins Arbeitslager gekommen sind.“ Schulen seien zu Lazaretten geworden.
Immer näher sei die Front gekommen. Die Familie flüchtete dann zu den Großeltern nach Schokken. „Mein Großvater sagte, wir hätten den Polen nichts getan und sie würden uns auch nichts tun. Und so war es auch“, sagt sie. Bis heute hat sie Kontakt zu polnischen Familien. „Wir sprachen auch gut Polnisch.“ Zwar trat die Familie die Flucht mit einem Leiterwagen an, aber „als Opa die ersten Schüsse hörte, sagte er, wir gehen zurück“. Zwar hätte die Familie – so berichtet sie fast nebenbei – „zum Erschießen an einer Wand gestanden, aber dann hat man uns laufen lassen“. In Notwohnungen lebten sie. „Oma und Mutti kochten für die Russen, sie mussten mitessen, damit sicher war, dass nichts vergiftet war“.
Polizisten brachten ihr und ihrer Schwester Fahrkarten
Sie selbst arbeitete im Mai 1949 auf dem Feld, setzte Kartoffeln, als die Polizei kam und den Namen von ihr und ihrer Schwester rief. „Wir hatten Angst. Aber die Polizisten gaben uns Fahrkarten, wir konnten nach Deutschland zu unserem Vater reisen.“ Nach einem Zwischenstopp in Posen zur Entlausung. Dann ging es in die Nähe von Bremen zum Vater. Als die Firma, bei der er dort angestellt war, pleite ging, fuhr er mit dem Rad bis Hattingen – fand Arbeit bei Gottwald, holte die Familie später nach. Christel Thormann war nicht mehr schulpflichtig, arbeitete in Haushalten.
Zwei Kinder hat Christel Thormann, hat nach ihrer Scheidung später wieder geheiratet, zahlreiche Heimatberichte für die Zeitung der inzwischen aufgelösten Hattinger Gruppe „WIR“ geschrieben. „Ich habe ein glückliches Leben“, auch wenn sie vom Ort im heutigen Polen immer noch von „Zuhause“ spricht. Und auch wenn sie es schade findet, dass der Krieg ihre Schulzeit prägte, sie an einem Schulabschluss hinderte. „Ich habe viele VHS-Kurse besucht, um mich zu bilden.“ Dennoch fragt sie sich manchmal: „Was wäre gewesen, wenn . . .“