Hattingen. Unser Autor Gerhard Wojahn erinnert zum letzten Mal sich an die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Er schreibt über seine Zeit in der Gefangenschaft bei den Amerikanern.

Nachdem eine amerikanische Einheit meinen Flak-Kameraden und mich am 11. April 1945 im Dorf Ehra gefangen genommen hatten, hofften wir, dass für uns der Krieg nun zu Ende sei. Das war nicht der Fall.

Am vierten Tag der Gefangenschaft fuhren zwölf große Sattelschlepper auf das Fabrikgelände in Gifhorn. Auf der Ladefläche jedes Fahrzeugs hätten normalerweise 60 Männer Platz gefunden. Genau abgezählte 100 Gefangene stießen die Amerikaner mit dem Kommando „Let’s go!“ auf jedes Fahrzeug. Kräftige GIs drückten jedem fest ins Kreuz und schoben alle nach vorn, eng aufeinander. Dabei musste jeder seine Hände nach hinten aufs Gesäß nehmen. Keiner konnte sich auch nur ein bisschen bewegen, nicht einmal tief atmen. Eine menschenunwürdige Behandlung der wehrlosen Gefangenen.

Die Sattelschlepperfahrer-Fahrer waren durchweg Schwarze. Nach der Ausfahrt aus dem Fabrikgelände ging es hinter den Eisenbahngleisen der Werksbahn scharf in eine Rechtskurve auf eine Stadtstraße. Einer der vor uns fahrenden Sattelschlepper nahm nach Verlassen des Werksgeländes diese Kurve mit stark überhöhter Geschwindigkeit. Dadurch wurden die Gefangenen gegen die linke Planke gedrückt, die Seitenwand des Sattelschleppers hielt dem Druck nicht stand und zerbrach. Zahlreiche deutsche Kameraden wurden auf die Straße geschleudert, dabei hat es Tote und Verletzte gegeben. Unser Lkw umfuhr die Unglücksstelle langsam und vorsichtig.

Bald erreichten wir die Autobahn Richtung Minden. Ungefähr 400 Meter unterhalb des Bahnhofs Porta Westfalica hatten die Amerikaner eine Ponton-Brücke über die Weser errichtet. Hier überquerten die Sattelschlepper den Fluss. In der Nähe von Bad Oeynhausen kamen wir wieder auf die Autobahn. Es wurde Nacht, und es ging nur langsam vorwärts. Unser Sattelschlepper fuhr jetzt als letzter in der Kolonne. Der Wachposten, der auf dem Dach des Führerhauses saß und mit Argusaugen seine Schäfchen mit einer MP im Anschlag bewachte, war eingenickt. Das registrierten auch meine Kameraden. Zwischen Herford und Bad Salzuflen hielt die Fahrzeug-Kolonne einmal an. Da wagte es doch einer der Gefangenen auf unserem Sattelschlepper, sich aus dem Menschenknäuel zu befreien, abzuspringen und zu flüchten. Er verschwand spurlos in der Dunkelheit – und niemand merkte es.

Nach der Ankunft in Dülmen wurden die Ladeklappen der Sattelschlepper geöffnet; wir mussten abspringen und waren dazu aber kaum in der Lage. Meine Kameraden und auch ich konnten uns nach der 24-stündigen Fahrt, die wir aufrecht stehend und fest auf den Vordermann gepresst durchzuhalten hatten, kaum einen Schritt tun. Jeder war mit steif gewordenen Knochen und kurz vor der völligen Erschöpfung kraftlos, dazu bei totaler Magenleere und Schwäche kaum beweglich. Manche Kameraden fielen vom Lkw auf das Pflaster. Ich war fast verzweifelt, weil mir die Kraft zum Weitergehen fehlte. Und wenn es den Amerikanern nicht zügig genug ging, halfen sie mit dem Gewehrkolben nach. Ich hatte Glück und kam ohne Verletzungen oder blaue Flecken davon.

Trupps zu je 40 Mann gingen oder – besser gesagt: stolperten – auf dem Bahnhof in Richtung des auf dem Nebengleis stehenden Güterzugs, der aus 40 Waggons bestand. Amerikaner mit Maschinenpistole eskortierten die Gruppen, damit niemand entweichen konnte. Jede Gruppe kletterte in einen gedeckten Waggon mit kleinen schmalen Oberlichtern in den Seitenwänden.

Das Erfreuliche war, dass an diesem fünften Tag der Gefangenschaft die erste Verpflegung für die Gefangenen bereitstand. Jeder bekam eine C-Ration. In der Schachtel lagen zwei Scheiben Brot, einige Kekse, ein Zehn-Gramm-Alu-Schälchen Erdnussbutter und vielleicht doppelt soviel Streichkäse. Ferner 20 Gramm Schokolade, drei Zigaretten, ein Plastikmesser, ein kleiner Pappbecher, zwei Blatt Toilettenpapier. Für die gesamte Waggonbesatzung war außerdem ein 20-Liter-Kanister mit Leitungswasser bereitgestellt worden. Die erste wohltuende Geste der Amerikaner gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen nach fünf Tagen und Nächten. Die Nahrungszuteilung war dringendst erforderlich, sonst hätte es bald die ersten Hunger-Toten gegeben.

Im Transportzug kommen die ersten Gedanken an zu Hause

Die Dampf-Lokomotive setzte sich in Bewegung und zog den „Güter“-Transport in südliche Richtung. In dem verschlossenen Waggon bestand keine Möglichkeit, die Notdurft zu verrichten. Ein Kamerad besaß ein Taschenmesser, mit dem er in stundenlanger Kleinarbeit ein Loch in die dicken Bodenplanken schnitzte. Andere Kameraden hatten sich während der Fahrt auch schon um das Herausbrechen der Leisten aus den Oberlichtern des Waggons bemüht. Nun kam endlich mehr Luft in den engen Raum.

Plötzlich hielt der Zug auf freier Strecke. An den Bahngleisen stand in der Nähe unseres Waggons ein etwa 14-jähriger Junge, der unseren bereits entleerten Getränke-Kanister durch die Luke annahm, in einem nahegelegenen Teich voll Wasser füllte und uns dann mit dem kostbaren Nass wieder anreichte. Auf dem Stationsschild des nächsten Bahnhofs stand „Damm“, ein kleiner Ort zwischen Haltern und Wesel. Die Bodenfläche des Waggons reichte aus, dass alle Kameraden in der Hockstellung Platz fanden. Nun dachte ich an zu Hause. Wie mag es da wohl aussehen? Leben meine Angehörigen überhaupt noch? Wird im Ruhrgebiet immer noch gekämpft?

Unser Gefangenenzug fuhr durch Geilenkirchen, Herzogenrath, Maastricht und hielt am Abend im Hauptbahnhof Liège (Lüttich). Ganz erschrocken sahen wir alle nacheinander durch das Oberlicht unseres Waggons einen deutschen Soldaten, der von den Schwellen im Bereich der Bahnsteige den Kot mit seinen bloßen Händen aufnahm und in einen Eimer füllte. Ein bewaffneter Posten stand auf dem Bahnsteig. Hoffentlich lassen die uns nicht hier aussteigen, war mein Gedanke. Wir wollten gern noch länger hungern, wenn man uns bloß weiter zu einem Ort schaffen würde, an dem ehrenvolle Arbeit verrichtet werden kann.

Der Zug bekam „Ausfahrt frei“ in Lüttich. Außer der Frühstücks­ration im gestrigen Päckchen hatte es bisher weder etwas zu essen noch zu trinken gegeben. Am 17. April mittags fiel uns auf, dass unser Güterzug die Hauptstrecke in Namur verließ und den Güterbahnhof Jambes du Nord erreichte. Die Schiebetüren aller Waggons öffneten sich. Endlich viel Luft und Tageslicht an einem warmen, trockenen Frühlingstag. Ich fragte mich, ob das hier wohl das Endziel unserer Reise ist?

Im Kriegsgefangenenlager Namur

Als Marschkolonne, immer drei Mann nebeneinander, tippelten wir durch die schmalen Straßen. Von Marschieren oder Gehen konnte bei der Schlappheit keine Rede sein. Nach zwei, drei Kilometern schwenkten wir auf ein riesiges Freigelände ein, vorn feste Bauten in rotem Ziegelstein, dahinter riesengroße Camps von hohen Wachtürmen und doppelten Stacheldrahtzäunen umgeben. Tausende deutscher Soldaten schauten uns entgegen. Wir befanden uns jetzt im Kriegsgefangenenlager Namur in Belgien.

Rund 100 000 deutsche Soldaten waren hier eingesperrt. Vor dem Haupteingang stand ein Gerüst, darüber ein nachgebildeter Torbogen, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: „Dass ihr hier seid, verdankt ihr eurem Führer!“ – und daneben, als Karikatur, unverkennbar ein Hitler-Kopf.

Es wurde Nacht (17./18. April 1945). Alle setzten sich in die Hocke, Rücken an Rücken, um sich so gegenseitig ein wenig zu wärmen. Um Mitternacht überflogen mehrere hundert britische und amerikanische Bomber unser Lager. Sie waren noch relativ niedrig, das laute und tiefbrummende Motorengeräusch behielten wir lange in den Ohren. Über welcher Stadt mögen sie denn heute ihre todbringende Fracht abwerfen? Alle Kriegsgefangenen wünschten sich, dass der Krieg, das Sterben und Vernichten nun doch bald zu Ende gehen möge.

Es war nach Mitternacht, als bekannt gegeben wurde, „Camp 5, Antreten zum Essen-Empfang“. Es dauerte zwei Stunden, bis man die Essenausgabe erreicht hatte. In Achter-Reihen ging es in die Küchenhalle. Vier Mann teilten die Suppe aus, jeder bediente zwei gleichzeitig, den einen mit der linken und den anderen mit der rechten Hand. Was da ins Kochgeschirr gefüllt wurde, war nicht viel. Neben der Suppe erhielt jeder einen Kanten Weißbrot. Erst nach 25 bis 26 Stunden gab es die nächste Mahlzeit. Nun galt es, den erschwerten Lebensbedingungen zu trotzen.

Verkündung der Kapitulation im Camp über ein Megaphon

Am 8. Mai 1945 wurden alle Gefangenen in ein großes Camp beordert. Ein deutscher Sprecher verkündete über Megaphon, dass der seit fast sechs Jahren andauernde Krieg heute durch die Kapitulation der Deutschen beendet worden sei. An allen Fronten schwiegen die Waffen. Die Mitteilung wurde mit Beifall quittiert. Man gedachte der toten Kameraden. Ein Pfarrer hielt eine kurze Andacht und betete für einen dauerhaften Frieden. Dann sangen alle gemeinsam „Großer Gott wir loben dich“, und ein Gefangener blies auf einer Trompete die Melodie vom guten Kameraden.

Was wird denn jetzt aus uns? Wann kommen wir nach Hause?, fragten sich alle. Oder müssen wir nun für die Sieger arbeiten? Die ganz jungen Gefangenen wurden nicht wie Kinder behandelt, sondern wie alle anderen Soldaten auch. Vielleicht Arbeit für Monate oder Jahre, sozusagen als Reparationsleistung der Deutschen? Doch wohl nicht in den Bergwerken der Belgier oder Franzosen? Viele Fragezeichen gab es. Vom Tage der Kapitulation an wurde die knappe Verpflegung noch reduziert. Wie sagte man, zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.