Hattingen. Wenige Wochen vor dem Mauerfall am 9. November 1989 floh Andreas Zimpel mit seiner Familie aus der DDR. Als er in Hattingen ankam, waren die Grenzen bereits geöffnet.
Seinen DDR-Ausweis hat Andreas Zimpel bis heute aufbewahrt, identifizieren allerdings konnte er sich mit dem politischen System nie. „In der DDR gab es ein diktatorisches System“, betont der in Leipzig geborene Hattinger. Und: „Mir fehlte dort die Luft zum Atmen, ich fühlte mich dauer-fremdkontrolliert.“ Über den Fall der Mauer, die Öffnung der Grenzen hat er sich deshalb ganz besonders gefreut; erlebt hat er dieses historische Ereignis vom 9. November 1989 vor dem Fernseher bei Bekannten – im Westen, in den er wenige Wochen zuvor geflüchtet war.
Ob er sich und seiner Familie die schwierige Flucht, rückblickend betrachtet, hätte ersparen können? Nein, sagt der 60-Jährige, das habe er nie gedacht. Denn als im Juni 1989 in Peking die kommunistische Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Demonstration von zehntausenden Studenten für mehr Freiheit, mehr Demokratie mit Panzern und Gewehren blutig beendet, fürchtet er, dass die ostdeutsche Revolutionsbewegung ein ähnliches Ende nehmen könne. Und er für sich um sein Leben.
Im Visier der Stasi
Andreas Zimpel erzählt, ihn habe die Stasi damals schon seit Jahren im Blick gehabt. So war er u. a. wegen des Besitzes von Songs des aus der DDR ausgebürgerten, systemkritischen Liedermachers Wolf Biermann aufgefallen; als Philosophie-Dozent zu arbeiten, wurde ihm trotz Diploms untersagt. Aber auch in seinem dann ergriffenen Beruf als DJ und Moderator bei Konzerten so bekannter Bands wie den Puhdys oder The Lords machte er aus seiner kritischen Haltung gegenüber dem sozialistischen Staat keinen Hehl. Die Eltern, „überzeugte Altkommunisten“, nannten ihn einen Vaterlandsverräter. „Ich habe damals im Eiltempo die Flucht für mich und meine Familie vorbereitet“, erinnert sich Andreas Zimpel.
Am Abend des 15. August 1989 ist es so weit: Zusammen mit seiner Frau Katrin, Schwägerin Simone Großmann und den beiden damals fünf Jahre und acht Monate alten Söhnen Moritz und Toni ergreift er die Flucht. Niederländische Freunde warten auf sie nahe der ungarischen Stadt Sopron. Von dort wollen sie über die Grenze nach Österreich. Doch sie werden von einem ungarischen Grenzsoldaten entdeckt – und verbringen die nächsten Stunden im Gefängnis. „Aus heutiger Sicht waren wir sehr schlecht vorbereitet“, gesteht Zimpel. „Wir haben gedacht, in Sopron sei die Grenze gar nicht mehr gesichert.“
Obwohl ein Gefängniswärter ihnen noch in der Nacht wertvolle Tipps gibt („Ich denke, die Ungarn hatten auch genug von diesem Überwachungssystem“) droht auch der zweite Fluchtversuch zu scheitern: Als Andreas Zimpel mit dem jüngsten Sohn auf dem Rücken schon fast am Stacheldraht angekommen ist, taucht nur wenige Meter entfernt erneut ein bewaffneter Grenzer auf. Doch dieses Mal bleiben er und seine Familie unentdeckt. Kaum, da sie alle die Grenze überschritten haben, reißt Andreas Zimpel vor Freude überschäumend die Arme hoch: „Wir sind frei-hei!“
Über das hessische Auffanglager in Pfungstadt erreichen die DDR-Flüchtigen am 15. November 1989 Hattingen; hier haben sie Freunde, die Jahre zuvor aus der DDR geflohen sind. Andreas Zimpel erzählt, dass im Westen sein Philosophiediplom nicht anerkannt wurde, dass er sich für den Aufschwung seiner Familie im Westen beruflich als Versicherungsmakler neu orientieren musste. Und dass er stolz ist auf das Erreichte. Und dass ihn der Fall der Mauer, die Öffnung der Grenzen keine 100 Tage nach seiner Flucht, auch 25 Jahre später noch „manchmal sprachlos macht“.