Gladbeck. . Was unterscheidet eigentlich das Leben in der Stadtmitte vom Wohnen in anderen Stadtteilen? Wie fühlt es sich an, als Kind, als Jugendliche und als Erwachsene immer „mittendrin“ zu sein? – Ein persönlicher Rückblick auf ein paar Jahrzehnte
Was unterscheidet eigentlich das Leben in der Stadtmitte vom Wohnen in Zweckel, in Ellinghorst, in Brauck . . .? Die Frage kam kürzlich beim Gespräch über unsere derzeitige „Wanderung“ durch die Stadtteile in der Redaktionskonferenz auf – und alle schauten mich erwartungsvoll an, weil meine Wohnung in der Mitte liegt.
Ich weiß keine Antwort, denn ich war immer in der Stadtmitte zu Hause (stimmt nicht ganz: In den 70ern bin ich vorübergehend in Kirchhellen „fremdgegangen“). Ich kann nicht vergleichen, nur beschreiben, wie sich das anfühlt, Jahrzehnte „mittendrin“ zu sein.
immer in der ersten Reihe
Als Kind saß ich immer in der ersten Reihe: Aus dem Wohnzimmerfenster unserer Dachgeschosswohnung an der Horster Straße hatte ich direkten Blick auf den Marktplatz, und da spielte sich damals eine ganze Menge ab: Bei den machtvollen Demonstrationen zum „Tag der Arbeit“ war er schwarz vor Menschen, genau wie bei den Fronleichnams-Prozessionen, die hier immer an einem festlich geschmückten Altar Halt machten. (Ich war mächtig neidisch, weil meine katholischen Freundinnen in diesen schönen weißen Kleidern und mit Kränzchen im Haar mitlaufen durften.) Sogar den spektakulären Auftritt der Traber-Renz-Truppe konnte ich, ohne Eintritt zu bezahlen, von meinem „Hochsitz“ bestaunen.
Und selbst wenn nichts Spektakuläres los war, lohnte sich der Blick aus dem Fenster – auf die meist rot-weiß-gestreiften Stoffe der Markstände, auf das bunte Treiben dort, auf die damals noch schöne Fassade des Textilhauses Schönhoff, auf den wahrscheinlich kleinsten Kiosk der Welt mit der Uhr obendrauf, in der die Mutter meiner Freundin saß und Zigaretten, Zeitschriften und Süßigkeiten verkaufte (uns zum Glück schenkte).
Bei so schöner Aussicht fiel für mich als Kind gar nicht ins Gewicht, dass ab fünf Uhr in der Früh die Straßenbahnen vorüber donnerten und das Geschirr im Schrank scheppern ließen, zur selben Zeit die Markthändler geräuschvoll ihre Stände aufbauten. Wer Ruhe liebte, war damals in der Stadtmitte sicherlich eher fehl am Platz, in den Zechensiedlungen mit den großen Gärten in Ellinghorst, Zweckel oder Butendorf wahrscheinlich besser aufgehoben (um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen). Einen Garten gab es bei uns nicht, aber wir hatten die verwinkelten Hinterhöfe und die riesige Rollschuhbahn an der Goethestraße ganz in der Nähe. Paradiese für Kinder.
Als Jugendliche – im Geschäftslokal in der Parterre unseres Hauses war der Tante-Emma-Laden, wo man auch schon mal „anschreiben“ lassen konnte, einer chemischen Reinigung gewichen; die ersten Gerüchte über den geplanten Abriss der Südbebauung am Markt und den Neubau eines Einkaufszentrums machten die Runde; die Schönhoff-Fassade war inzwischen hinter der hässlichen Verkleidung verschwunden – begeisterten mich vor allem die kurzen Wege „in die Stadt“: Ganz schnell mal eben die Clique treffen bei Hegemann, Pütter, „Atta“ Vennemann (offiziell hatte ich Schul-Sportnachmittag), auf einer Bank im Rathauspark Händchen halten, die Programme der Schauburg, des Apollo- und des Rex-Kinos studieren, bei Karstadt Pommes essen, von den Eltern unbemerkt abends mal kurz in den „Oldtimer“ huschen (Gladbecks einzige Disco, direkt hinter der Lambertikirche).Die kurzen Schulwege – zur Lutherschule und zum Mädchengymnasium – fand ich damals nicht so wichtig.
Als junge Frau habe ich meiner Heimatstadt Gladbeck vorübergehend den Rücken gekehrt und in der damals noch eher ländlichen Idylle Kirchhellens gespürt, was ich vor allem vermisse: das quirlige Treiben in der Innenstadt.
Jetzt wohne ich schon ein paar Jahrzehnte wieder in Gladbeck – nicht von ungefähr hat es mich damals wieder in die Innenstadt verschlagen. Einiges ist anders als früher: Am Mietshaus an der Schillerstraße donnern keine Straßenbahnen vorbei (dafür allerdings wahre Bus-Konvois). Ich blicke nicht mehr auf den Marktplatz. Aber da ist ohnehin längst nicht mehr so viel los wie früher, und so schön ist er auch nicht mehr. Stichworte: Bäume fällen, Markthalle bauen, Markthalle abreißen, neue Bäume pflanzen, halb zum Parken freigeben. Vom großen Balkon meiner Altbauwohnung schaue ich ins Grüne: in einen Garten mit wunderschönen alten Bäumen. Ruhig ist es in diesen rückwärtigen Zimmern (die ich – Stichwort Bus-Konvois – zum Glück überwiegend nutze). Und wenn mir der Sinn nach Trubel steht: In einer Minute bin ich „in der Stadt“.