Gladbeck. Die Gewaltakte der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung eskaliertenin der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – unter den Augen der Gladbecker Bürgerschaft. Die meisten jüdischen Bewohner fanden in den KZ den Tod.

Die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung trafen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 – vor genau 75 Jahren – auch die Juden in Gladbeck mit aller Wucht: Menschen wurden aus dem Schlaf gerissen, blutig geprügelt, erniedrigt, eingekerkert. Ihre Wohnungen wurden zerstört und geplündert. Das alles geschah, wie man längst weiß, unter den Augen der Gladbecker Bevölkerung, ihrer Duldung und sogar unter ihrer Beteiligung.

Im Vestischen Hof an der Postallee, Versammlungsort der Gladbecker Nazis, hatten sich am Abend des 9. November Parteibonzen, Braunhemden und Mitläufer - wie überall im Land – zunächst zu einer „Feier“ anlässlich des gescheiterten Hitler-Putsches von 1923 getroffen. Von dort zogen SA-Leute, oft in „Räuberzivil“ getarnt und angetrunken, los, um die Fensterscheiben der noch bestehenden jüdischen Geschäfte in der Innenstadt zu zerschlagen und die Auslagen zu plündern, wie Historiker Frank Bajohr in dem Buch „Gladbeck unter’m Hakenkreuz“ schreibt. Wohnungen wurden demoliert, Möbel auf die Straße geworfen, u.a. waren die Familien Zwillenberg, Cohen, Kahn, Perl betroffen.

Die meisten Juden wurden ermordet

Alle Juden, so weiß Heimatforscher Manfred Samen nach reichlichem Akten-Studium, wurden aus den Häusern gezerrt, zusammengetrieben und misshandelt. Fast alle kamen in teils mehrwöchige „Schutzhaft“. Schergen der „SA-Standarte 15 Bottrop-Gladbeck“ nahmen auch ganz offen in ihren braunen Uniformen an den Ausschreitungen teil. Nach Samens Recherchen waren auch SS-Angehörige darunter.

Historiker Frank Bajohr arbeitete die NS-Vergangenheit Gladbecks auf.
Historiker Frank Bajohr arbeitete die NS-Vergangenheit Gladbecks auf. © WAZ

Der Gladbecker Samuel Cohen, der Krieg und Holocaust überlebte, schildert laut Frank Bajohr eindrucksvoll stellvertretend von dem Schicksal der Gladbecker Juden: „Im November 1938 wurde das Geschäft sowie die Einrichtung unserer Privatwohnung durch die Nazis zertrümmert und geplündert. Meine Frau und ich wurden blutig geschlagen und in ein Gefängnis geschleppt. Nachdem ich einen Monat in Gladbeck und zwei Monate in Osnabrück im Gefängnis gewesen war, wurde ich in ein Arbeitslager in Westfalen verschickt. 1939 wurde ich vor die Gestapo geladen, und es wurde mir eine kurze Frist zur Auswanderung gegeben. Im Juni 1939 gelang es mir, nach England auszuwandern, unter Zurücklassung meiner Frau, die nach Theresienstadt transportiert wurde, wo sie umkam. Meine Schwiegereltern flüchteten mit den Kindern und meinem Sohn, geboren 1935, nach Holland, wo sie alle nach der Invasion verhaftet und in ein KZ gebracht wurden, wo sie umkamen. Mein Sohn wurde nach Ausschwitz verschickt, wo er in den Gaskammern ermordert wurde.“

Betsaal an der Horster Straße verwüstet

Gezielt wurde das Haus der Familie Max und Ida Kaufmann an der Horster Straße 54 gestürmt – in dem Haus befand sich auch der Betsaal der kleinen Gladbecker jüdischen Gemeinde. Er wurde zerstört, die Familie in Haft genommen und schließlich nach Holland ausgewiesen, wie der langjährige Stadthistoriker und heutige Dezernent Rainer Weichelt in einem Aufsatz schreibt. Sie wurden später in einem der KZ umgebracht.

Zynischerweise quartierte sich nach der „Arisierung“ des Hauses Horster Straße 54 dort die NSDAP mit dem Parteibüro der „Ortsgruppe Gladbeck-Mitte 1“ ein. Der ehemalige Betsaal wurde als NS-Schulungsraum missbraucht. Zynisch schrieb die damalige, gleichgeschaltete Ortspresse in nur einem Satz: „Wie in vielen anderen Orten, so machte sich auch in Gladbeck die Empörung der Bevölkerung wegen der feigen Mordtat an dem Gesandten vom Rath in vereinzelten judenfeindlichen Kundgebungen Luft.“

Den braunen Terror in Gladbeck unterstützen sogar Nazis aus Horst, die, so Samen, wegen mangelnder Ortskenntnis das Schuhhaus „Rheingold“ am Marktplatz (etwa dort, wo heute „Ricken“ ist) verwüsteten. Der Name klang offenbar jüdisch, das Geschäft war es aber nicht. Völlig makaber mutet eine Anzeige dazu zwei Tage später in der Lokalzeitung an. Dort stand: „Das Schuhhaus ,Rheingold’ legt im Hinblick darauf, daß ihm versehentlich bei den antijüdischen Kundgebungen die Schaufenster eingeworfen wurden, wert auf die Feststellung, dass es ein arischer Betrieb ist.“

Kleine jüdische Gemeinde in Gladbeck

Am Tage der Reichspogromnacht (von den Nazis verharmlosend „Reichskristallnacht“ genannt) lebten in Gladbeck, das über 60 000 Einwohner zählte, nur noch wenige Juden, etwa 50. Die jüdische Gemeinde war in Gladbeck ohnehin nie so groß gewesen wie andernorts. Zu Beginn der Nazi-Diktatur lebten in Gladbeck etwa 300 Mensche jüdischen Glaubens.

Schon Mitte der 30er hatten viele ihre Heimatstadt verlassen, weil Druck und Verfolgung in Gladbeck besonders ausgeprägt waren, etwa durch den menschenverachtenden 11-Punkte-Katalog des Rates von 1935 (u.a. Judenzimmer im Hospital, Aufstellen von „Juden-unerwünscht“-Schildern an den Stadtgrenzen). Schließlich waren am 28. Oktober 1938 alle Juden polnischer Herkunft („Ostjuden“) zwangsweise abgeschoben wurden, sodass die jüdische Bevölkerung am 9. November 1938 bereits stark reduziert war. Ende ‘44 gab es nur noch 4 Juden in der Stadt. Die meisten waren in den Konzentrationslagern im Osten ermordet worden.

Isidor Kahn war der einzige überlebende Jude in Gladbeck

Kaufmann Isidor Kahn war der einzige Gladbecker Jude, der den Holocaust in verschiedenen Verstecken, auch in der Stadt, überlebte. Geboren 1887 war er 1914 nach Gladbeck gekommen, hatte ein kleines Textilgeschäft, zunächst an der Kolpingstraße, dann an der Marktstraße. In der Pogromnacht wurde er verhaftet und saß bis zum 23. November im örtlichen Gefängnis. Er musste sein Geschäft aufgeben und lebte zunächst und auch später phasenweise bei seiner Schwägerin an der Bahnhofstraße.

Ab Januar 1943 war er untergetaucht und lebte in verschiedenen Verstecken, darunter im Münster- und Sauerland. Auch mutige Gladbecker halfen ihm dabei, unter anderen Reinhold Hoff, wie Historiker Frank Bajohr schreibt. Hoff versteckte Kahn „in gewissen Abständen in einem Zimmer unseres Hauses“. Mindestens zweimal flüchtete Kahn in letzter Minute und entkam seinen Häschern nur knapp. Bei der Befreiung 1945 hatte ihn eine Familie in Gelsenkirchen versteckt gehalten. Kahns „arische“ Frau und die Schwägerin nahm die Gestapo noch 1945 bis Kriegsende in „Geiselhaft“. Isidor Kahn kehrte nach Gladbeck zurück und eröffnete - wohl als einziger Jude – in seinem alten Heimatort erneut ein Geschäft.