Gladbeck. .
Ein scharfer eisiger Wind peitscht dicke Wolken über den Himmel, zerrt an Ästen, zaust die Haare; für März ist es viel zu kalt an diesem Nachmittag. Autos rauschen flott auf der Hornstraße vorbei. Johannes und Doris Beckmann lenken ihre Schritte vorbei am Elternhaus des 61-Jährigen, sie kreuzen den Hof, streben dorthin, wo Rehe aufmerksam den Kopf recken – um dann das Weite zu suchen. Und da steht sie: die kleine Privatkapelle der Familie. Zierlich wirkt sie, mit ihrem schmucken Fachwerk. Schneeweißes Gemäuer mit Holzbalken dunkel wie Kohle, fein gedrechselte Stäbe am Eingang, die grasgrün abgesetzt sind. Ein schmuckes Gebetshäuschen, dem der Zahn der Zeit offenbar nichts anhaben konnte. Und das „Kapellchen“, wie die Besitzer Beckmann ihr Heiligenhäuslein liebevoll nennen, hat schon so einige Jährchen hinter sich. „1762“ ist auf der Inschrift über der Tür zu lesen. Also vor 250 Jahren wurde es auf der Anlage des Hofes Mai-Lahove in Rentfort errichtet; daran erinnert am 5. Mai eine Andacht.
Die kälteklamme Hand drückt sachte das Zaun-Törchen vor der Kapelle auf. Der Besucher tritt ein in einen Raum, der der Realität seltsam entrückt scheint. Nur wenige Meter entfernt von der schnellen „Welt da draußen“ umhüllt den Menschen hier Ruhe. Die Geräuschkulisse vom Straßenverkehr dringt nur noch als ein Hauch von Summen an das menschliche Ohr, durchbrochen von einem zarten Vogelruf – kaum zu glauben.
Wer das Beckmann’sche Kapellchen betritt, steht Aug‘ in Aug’ mit dem Gekreuzigten, flankiert von den Männern, die mit ihm ans Kreuz genagelt wurden; zu seinen Füßen Maria, Maria Magdalena und Johannes. Das braun-weiße Relief aus Terrakotta konzentriert sich auf das Wesentliche. Doris Beckmann hat ein blitzweißes Tuch auf dem Altar ausgebreitet, eine einzelne Kerze ist umkränzt von rankendem Grün. An den hell getünchten Wänden ist ein winziges Weihwasserbecken befestigt.
Die Schlichtheit des Gebetshäuschens strahlt eine Anmut aus, die von tiefer Gottesfurcht zeugt. Welche Menschen mögen schon an dieser Stelle gestanden und die Augen gehoben haben zu Jesus und Maria? Wer hat in wirren Zeitläuften um Beistand gebetet, während Kriegsjahren um Frieden gefleht?Hofften Bauern im Gebet auf eine ertragreiche Ernte? Haben Christen hier ihr Elend beklagt, vor Prüfungen göttliche Stärke herbeigesehnt? Oder einfach Dank gesagt für Gutes, das ihnen widerfahren ist?
Für Johannes Beckmann und seine Familie gehört der Gang zum „Kapellchen“ zum alltäglichen Leben. Der 61-Jährige, der mittlerweile sein Rentendasein genießt, ist gelernter Landwirt und Kaufmann. Der christliche Glaube habe immer eine zentrale Rolle in seiner Familie gespielt, sagt er. Und seine 59-jährige Frau ergänzt: „Der Glaube ist bei uns oberstes Gebot.“
Also hatte das „Kapellchen“ für die Beckmanns und ihre Vorfahren stets eine große Bedeutung. „Es ist das älteste erhaltene Gotteshaus in Gladbeck, 100 Jahre älter als die Lamberti-Kirche“, erklärt der 61-Jährige Besitzer. Seit Generationen ist die Kapelle im Familienbesitz. Hier erbitten heute Jäger den Segen des Heiligen Hubertus.
Doris Beckmann sagt: „Sie wurde stets in Schuss gehalten.“ Und Tochter Barbara erinnert sich: „Meine Oma hat immer frische Blumen hingestellt.“ Unvergessen für die 26-Jährige: Vor jeder Prüfung zündeten sie selbst oder Mutter Doris ein Kerzlein im „Kapellchen“ an und sprachen ein Gebet. Krankenschwester Barbara plaudert: „Als Kind war es etwas Tolles, um die Kapelle herum zu spielen.“ Schwester Dörthe, 31 Jahre alt, ist jüngst Mutter geworden. Und wahrscheinlich wird bald ihr Söhnchen die Kapelle – seit 1762 ein Hort der Stille und Beständigkeit – entdecken.