Gladbeck. .

Der vom Alter gekrümmte Zeigefinger fährt die schier endlosen Zahlenkolonnen in säuberlicher Handschrift entlang. „Hier! 1978 geht’s los.“ Manfred Gra­bowsky tippt auf den Anfang seiner Aufzeichnungen. Zwischen den Deckeln des großen Journals stecken Kapitel in der Geschichte des Brieftaubenzuchtvereins „Siegespalme“. Der 77-jährige Grabowsky und der sechs Jahre ältere Wilfried Hallai glucken zusammen und picken sich Daten heraus. Für die beiden Züchter lesen sie sich wie für andere Menschen ein Fotoalbum: Erinnerungen über Erinnerungen. In 85 Jahren Vereinsgeschichte passiert eben so einiges: die erste Medaille, vielfach prämierte „Überflieger“, der Bau der Einlassstelle an der Haldenstraße 1978/1979 – „Die haben wir mit eigenen Händen und eigener Kraft gebaut“ und „Das ist die größte und schönste im Umkreis!“ Vieles hat sich ihnen eingeprägt.

Vereine lassen Federn

Sie stehen altersmäßig ganz oben auf der Mitgliederliste. „Im Herbst 1927 wurde unser Verein gegründet, 1928 haben wir zum ersten Mal Tauben geschickt“, erklärt Gabriele Wolter, die mit dem ersten Vorsitzenden Anton Nowack eine Schlaggemeinschaft bildet. „Von den Gründungsmitgliedern lebt keiner mehr“, erzählt Hallai, „die sind schon alle im Himmel.“ Ein Hobby, auf das immer noch fast ausschließlich Männer fliegen, das sei die Brieftaubenzucht damals wie heute, darin ist sich das „Siegespalme-Trio“ einig. Apropos: Woher der Name kommt? „Das wüsste ich auch gerne“, witzelt Hallai.

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Er habe mit vier Jahren seine erste Taube in die Hände bekommen. Auch Grabowsky ist mit den Vögeln, die übrigens eine „ganz andere Rasse sind als die Wildtauben“, groß geworden. Da lag es nahe, das Hobby der Väter fortzuführen. Das waren noch Zeiten – als das „Rennpferd des Kumpels“ Bergmänner wie Grabowsky und Baufacharbeiter Hallai beflügelten. Erfolgreiche Züchter hätten auch in der Damenwelt ordentlich Schlag gehabt.

Wehmut schwingt bei diesem Rückblick mit. Selbst Nowack, der mit seinen 65 Jahren deutlich jünger als seine beiden Vereinskollegen ist, stellt fest: Längst machen andere Freizeitbeschäftigungen das Rennen. Motorisierte Flitzer auf dem Asphalt haben den geflügelten Sportlern der Lüfte den Rang abgelaufen. Die Folge: Vereine müssen Federn lassen, weil der potenzielle Nachwuchs andere Ziele ins Visier nimmt. Oder das Interesse geht flöten, sobald junge Züchter flügge werden. „Die gucken dann mehr nach Mädchen“, meint der 83-jährige Hallai und zwinkert.

Er plaudert: „Früher hatten alle hier Tauben.“ Aber es werde Interessierten anno 2012 auch schwerer gemacht, ihr Hobby auszuüben. Nowack erläutert: „Man muss Eigentum haben, um einen Schlag zu bauen. Und für den braucht man eine Genehmigung.“ Ein weiteres Problem: „Der Habicht, der holt immer häufiger Brieftauben!“ Ein wenig zögernd rückt Nowack damit ‘raus, wieviele Flitzer er aktuell unter seine Fittiche nimmt: „170!“ Partnerin Gabriele Wolter: „Jetzt kommt’s ‘raus!“ Doch sie lächelt: Schließlich liebt auch sie Brieftauben.