Gladbeck. Die 75-jährige Ehefrau, die allein ihren verwirrten, bettlägerigen Mann (80) pflegt, der sich schreiend mit Händen und Füßen wehrt – so dass sie häufig blaue Flecken hat und ihr auch mal die Hand ausrutscht. Oder die berufstätige Frau, die sich vor dem Job um die ungeliebte, stets nörgelnde Schwiegermutter kümmert und ausrastet, weil die Seniorin mal wieder nicht wichtige Medikamente einnehmen will.
„Gewalt im Alter ist ein Thema, das für unsere Gesellschaft immer dringlicher wird“, mahnte Prof. Dr. Dr. Rolf D. Hirsch am Dienstagnachmittag vor den Mitgliedern des Sozialausschusses. Der Geronto-psychiater und Vorsitzende der „Bonner Initiative gegen Gewalt im Alter“ zeigte als Gastredner auf, wie dem Gewaltphänomen begegnet werden kann.
Die Faktenlage
Durch längere Lebenserwartung hat sich die Altersstruktur in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert. Der Bevölkerungsanteil der über 80-Jährigen hat zugenommen und nimmt weiter zu, wobei die Pflegebedürftigkeit überproportional ansteigt. Drei Viertel der Pflegebedürftigen werden von Angehörigen häuslich versorgt, ohne dass diese über eine besondere Ausbildung oder Schulung verfügen.
Die Ursachen der Gewalt
Aufgrund von permanenter körperlicher und psychischer Überforderung, Scham vor Inanspruchnahme von Hilfen, unzureichende Hilfsangebote und fehlende Unterstützung kann sich Gewalt als Zeichen eines Erschöpfungszustandes äußern. „Wer zudem nie gelernt hat kritische Situationen gewaltfrei zu lösen, wird auch in einer Pflegebeziehung nicht hierüber verfügen“, so Prof. Hirsch. Überwiegend handele es sich um schon lang bestehende schwere Beziehungskonflikte, die sich durch die Pflegebedürftigkeit zugespitzt haben.
Die Formen der Gewalt
Häufige Formen der Gewalt, wie sie auch beim Krisen- und Notruftelefon der Initiative gegen Gewalt im Alter geäußert werden, sind körperliche und seelische Misshandlung, Freiheitseinschränkung, finanzielle Ausbeutung und passive sowie aktive Vernachlässigung.
Gegen Gewalt vorbeugen
„Die Unterstützung muss von Außen kommen“, sagt Prof. Hirsch. Wünschenswert ist es dass der Haus- oder Facharzt Angehörige darüber aufklärt, welche Schwierigkeiten bei
der Übernahme einer Pflege auf sie zukommen kann, wie sie hierfür gerüstet (innerlich und äußerlich) sein sollten und wo es Hilfsangebote gibt. Angehörige selbst können örtlichen Beratungsstellen aufsuchen. Entlastung bringt oft auch der Anschluss an eine Selbsthilfegruppe und die Nutzung von Schulungsangeboten. „Aus reinen Pflicht- und Schuldgefühlen eine Pflege zu übernehmen führt unweigerlich zur Überforderung“, mahnt Prof. Hirsch. Besser sei es, eigene Grenzen zu erkennen und auch fremde Hilfe anzunehmen. Pflege bedeute aber nicht unbedingt nur Schwierigkeiten: „Pflege bringt auch persönliche Bereicherung.“