Nichts ist mehr, wie es war in der Familie Schwandt. Der eine Fausthieb in der Nacht zum 8. Mai, diese völlig sinnlose Gewalt, die ihrem Sohn Kevin (22) schwerste Verletzungen zugefügt hat, hat ihr Leben völlig verändert.
Die Eltern
„Es gibt Tage, da kann man nicht darüber reden“, sagt Peter Schwandt (57). „Kevin da so liegen zu sehen, das reißt einem das Herz aus dem Leib.“ Und es gab Momente in den letzten sechs Wochen, die schier unerträglich waren. Als morgens um sieben Uhr der Anruf aus der Klinik kam: Sie sollten bitte möglichst bald kommen, man müsse abklären, was im Fall des Hirntods sei. „Können Sie sich vorstellen, wie das ist?“ Gott sei Dank war das dann doch nicht nötig. An dem Morgen aber wussten sie das noch nicht.
„Kevin wird in der Unfallklinik gut behandelt.“ Davon sind die Eltern überzeugt. Aber sie wissen und sehen es auch: Schwer verletzte Patienten sind der Alltag dort, Kevin ist kein Einzelfall. Die Aussagen der Ärzte über seinen Zustand, seine Heilungschancen sind nüchtern-sachlich. Um Enttäuschungen zu vermeiden, will man erst gar keine falschen Hoffnungen auf vollständige Genesung machen. Auch wenn die Angehörigen es sich noch so sehr wünschen . . . Es gibt viele trübe Tage und viele trübe Gedanken. „Ein langer Tunnel ohne Licht am Ende“, beschreibt Kevins Vater seine Gefühle.
Im Tagesablauf der Schwandts dreht sich seit Wochen alles um den kranken Sohn. „Einmal am Tag muss ich zu meinem Jungen“, sagt Conni Schwandt (50), die in den ersten vier Wochen nach der Attacke auf ihren Sohn gar nicht gearbeitet hat, jetzt ihre Arbeitszeit um die Hälfte reduziert hat. Peter Schwandt, Frührentner, hat bislang öfter bei Veranstaltungen in der Schalke-Arena als Ordner gearbeitet. Seit dem 8. Mai hat er keinen Job mehr angenommen.
Gladbeck - Duisburg-Wedau - Gladbeck: Sie fahren die Strecke jeden Tag. 3500 Kilometer sind in den vergangenen Wochen zusammen gekommen, so viel wie sonst in Monaten nicht. Ein paar hundert Euro hat der Parkautomat auf dem Klinikparkplatz schon geschluckt. Ein Kaffee aus dem Automaten in der Klinik kostet 2 Euro pro Becher. „Wahnsinnige Preise“, sagt Peter Schwandt. Das sind Kosten, die im knappen Familienbudget nicht eingeplant waren. „Wir sind bis jetzt immer mit geringem Einkommen ausgekommen, es hat gereicht“, sagen die Eltern. Jetzt fragen sie sich, was noch auf sie zukommen wird, was sein wird, wenn Kevin nach Hause kommt. „Wir wohnen im Altbau über mehrere Etagen. Kevins Zimmer ist ganz oben. Wie soll das alles gehen?“
Dabei schien es bis zum 8. Mai, als wären sie nach vielen schwierigen und anstrengenden Jahren endlich auf gutem Weg. Für dieses Jahr hatten die Eltern den ersten Urlaub seit vielen Jahren geplant. Auch, weil die jahrelange Pflege des kranken Großvaters das vorher gar nicht möglich machte. Dieses Jahr wäre so schön geworden. „Jetzt“, sagen Peter und Conni Schwandt, „läuft unser Leben aus dem Ruder. Wir haben nichts mehr, auf das wir uns freuen können.“
Der Bruder
„Wir haben ja noch einen Sohn“, sagt Peter Schwandt. Dennis, der fünf Jahre älter als Kevin ist, hat gerade seinen Bachelor gemacht. Dennis wollte in diesen Wochen heiraten, am Freitag wäre die ganze Familie auf seinem Polterabend gewesen. Kevin sollte der Trauzeuge sein. Jetzt wird Dennis psychologisch betreut, wie übrigens die ganze Familie. „Das kann man nicht ohne Hilfe durchstehen“, weiß Alfred Voigt vom Opferschutzverein Weißer Ring, der sich von Beginn an um die Familie kümmert. Er hat dafür gesorgt, dass der Sozialdienst und die Opferambulanz des Krankenhauses Kontakt zur Familie aufgenommen haben.
Die Oma
„Sie weint nur noch“, erzählen Kevins Eltern. Sie kann gar nicht fassen, was mit ihrem Enkel geschehen ist. Kevins Oma ist gehörlos, hat es selbst ja nie leicht gehabt im Leben und seit dem Tod ihres Mannes nur noch wenig Menschen, die ihr nahe stehen. Die zwei Enkel sind ihr Ein und Alles. Kevins Mutter hat sich sonst viel um die Mutter gekümmert. Jetzt hat sie wenig Zeit, weil sie jeden Tag ins Krankenhaus fährt.
Der Onkel
Uwe Brandt ist aus Berlin zu Besuch gekommen. Er hat selbst gerade zwei schwere Operationen durchstehen müssen, will aber der Schwester zur Seite stehen. Schon vor der Attacke auf Kevin hat ihn das Thema Gewalt auch und gerade im Zusammenhang von Menschen mit Migrationshintergrund stark beschäftigt. „Dafür bietet eine Stadt wie Berlin leider täglich Anlässe“, sagt er.
Uwe Brandt liest zurzeit das Buch der Jugendrichterin Kirsten Heisig „Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“. Und er stellt Fragen: „Da stimmt doch was nicht in dieser Gesellschaft. Es kann doch nicht sein, dass mein Neffe jetzt so da liegt! Da muss doch was passieren.“
Quälende Fragen
Bohrende, quälende Fragen stellen sich auch die Eltern. Warum ausgerechnet ihr Sohn, warum Kevin? Das ist die eine Frage, die sie seit Wochen nicht los lässt. Die andere: Warum hat der Täter das getan, warum einfach so zugeschlagen? „Hinterhältig“, war das, findet Conni Schwandt. „Das war ja keine Schlägerei“, stellt sie die anfängliche Berichterstattung über die Attacke am Rand des Stadtfests richtig. „Unser Kevin ist keiner, der sich prügelt.“
Die Eltern kennen den Namen des Täters, es ist ein 18-jähriger Gladbecker. Sehen werden sie ihn erst beim Prozess. Weil der junge Mann strafrechtlich noch nie aufgefallen ist und keine Fluchtgefahr besteht, ist er auf freiem Fuß. Dass der Täter sein bisheriges Leben weiter leben kann, zu Hause ist, während ihr Sohn, das Opfer, hilflos im Krankenhaus liegt – es fällt ihnen schwer, das zu akzeptieren.Was sie sich wünschen? „Dass er Krankenpfleger werden und ein Leben lang Menschen wie Kevin pflegen muss“, sagt der Vater bitter.
Anteilnahme tut so gut
Mit all dem Leid sind die Eltern nicht allein. Alfred Voigt vom Weißen Ring hilft. Und die große Anteilnahme der Gladbecker „tut uns wirklich gut“, sagen Conni und Peter Schwandt. Die vielen Wünsche für Kevin via Facebook, die Karten und Blumen, das große Banner mit Grüßen an Kevin, das seine Fußballfreunde beim DFB-Pokalendspiel in Berlin für ihn hoch hielten -- all das hilft ihnen, diese Zeit durch zu stehen. „Wir sind allen sehr dankbar.“ Dass die Initiative zur Spendenaktion aus dem Rentforter Fußballverein kam, der Bürgermeister dies mit einem Appell unterstützt – auch das hat sie tief beeindruckt. „Kevin hat so viele Freunde. Das macht mich richtig stolz“, sagt die Mutter. „Ja, ich bin richtig stolz auf meinen Jungen.“