Gladbeck. Inflation, Energiepreise, persönliche Probleme: Ursachen für den Verlust der Wohnung sind vielfältig. Zum Glück gibt’s Anlaufstellen und Helfer.
Draußen prasselt der Regen, der Wind zerzaust das Blätterdach der Bäume, es ist ziemlich frisch für die Sommerzeit geworden. Wohl dem, der im Trockenen in einer Wohnung sitzt. Wenn er denn eine hat. In Zeiten der Inflation, gestiegener Preise für Energie und Mieten sowie einem überschaubaren Angebot von bezahlbaren Wohnraum ist das längst keine Selbstverständlichkeit. Und das Dach über dem Kopf zu verlieren, das kann jeden treffen. Denn Auslöser für diese Notlage gibt’s viele, und die Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt ist groß.
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Zunächst gilt es zu unterscheiden. Annette Frerick, Leiterin der Caritas-Tagesstätte für Wohnungslose, erklärt: „Die Person ohne Obdach lebt draußen. Wohnungslos ist jemand ohne Mietvertrag, der vielleicht bei Bekannten unterkommt.“ Ein Zimmer – womöglich ohne Strom und fließend Wasser – hat die Bezeichnung „Wohnung“ nicht verdient. Marcel Hädrich, der die städtische Abteilung „Existenzsicherung und Wohnen“ leitet, stellt klar: „Es ist ein Mindestmaß an Voraussetzungen festgelegt. Es muss unter anderem eine Möglichkeit geben, sich Essen zuzubereiten, zudem einen abschließbaren Schrank oder Spind, und im Winter sollte es warm sein.“
In Gladbeck sind derzeit knapp 1000 Menschen ohne Wohnung
Für Wohnungslose hält die Stadt Gladbeck – derzeit sind es nach Hädrichs Angaben knapp 1000 Menschen inklusive Flüchtlinge – Notunterbringungen wie „An der Boy“ vor. „Hier leben aktuell 375 Wohnungslose“, so Hädrich. Manche Betroffene sind dezentral untergebracht. Und zwar in Wohnungen, die die Stadt angemietet hat. Stefan Mühlenbeck, Chef der Abteilung Betreutes Wohnen sowie Beratung und Teilhabe beim Caritasverband Gladbeck: „Wir haben fünf ad-hoc-Wohnungen, die aktuell alle belegt sind.“
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Und dennoch leben in Gladbeck Menschen, die sich abends einen Schlafplatz im Freien suchen. Thomas Andres, Leiter des Amtes für Soziales und Wohnen: „In Gladbeck haben wir knapp 200 Menschen ohne Dach überm Kopf, die aber nicht auf der Straße leben.“ Hinzu kommen „sechs ohne jegliche Unterkunft“.
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Ad hoc ist ein Stichwort, das auf so manche Notlage zutreffen mag: Also Knall auf Fall, akut, pressiert’s. Die Wohnung ist futsch. „Hupps, auf einmal steht der Gerichtsvollzieher auf der Matte! Was tun?“, beschreibt Frerick eine nicht untypische Situation. Dabei habe sich dieser Moment, wenn man nicht gegensteuert, angekündigt: Mietzahlungen blieben eventuell eine geraume Zeit aus.
Mahnschreiben wurden ungeöffnet in irgendeine Schublade gestopft. Ans Telefon gingen die in Bedrängnis geratenen Menschen lieber mal nicht. Und wenn’s an der Tür klingelt, reagiert man auch nicht.
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„Verdrängung ist ein wichtiger psychologischer Mechanismus“, weiß Mühlenbeck. Dabei sind die Fachleute in Gladbeck bemüht, es gar nicht erst zum Äußersten kommen zu lassen. Über das Gericht erfahren Hädrich & Co., in welchen Fällen es eng wird: „Unsere Sozialarbeiter suchen die Betroffenen auf. Wir betreuen zurzeit 300 bis 400 Fälle.“ Individuelle Beratung, beispielsweise bei drohender Zwangsräumung oder bei Kündigung des Mietvertrags, ist nur eine von etlichen Optionen. Ziel: frühzeitig verhindern, dass jemand sein Heim verliert. Der Leitsatz lautet: „Wohnungslosigkeit vermeiden – dauerhaftes Wohnen sichern“.
Das Netzwerk der Möglichkeiten ist eng geknüpft, so die Fachleute. Doch Annette Frerick hat die Erfahrung gemacht: Manche Menschen sind nicht bereit, Hilfe anzunehmen – sei sie nun praktischer Art oder psychologischer Natur. Um nur einige mögliche Wege aus dem Dilemma zu nennen: Unterstützung in Mieterbüros und Stadtverwaltung, bei der Caritas, Drogenhilfe Drop Out und Vestischen Arbeit.
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Diese exemplarische Liste führt vor Augen, was Mühlenbeck als „multiple Problemlage“ bezeichnet: Die Ursachen von Wohnungslosigkeit sind oft mannigfaltig. Der Arbeitsplatz und damit das Einkommen – weg. Krankheit, Drogenabhängigkeit, Trennung: „Es gibt keinen typischen Fall“, sagt Thomas Andres, „meistens passiert etwas Einschneidendes, das Menschen aus der Bahn wirft.“ Das könne auch „Haft oder der Tod der Partnerin“ sein. Psychische Hintergründe spielen erfahrungsgemäß eine große Rolle. „Wer depressiv ist, ist nicht faul, sondern krank“, so Mühlenbeck.
Annette Frerick verhehlt jedoch auch eine weitere Klientel nicht: „Die Familie, in der noch nie jemand gearbeitet hat, die Kinder die Schule abbrechen – diese Menschen landen irgendwann bei uns.“
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Wie groß die Chancen sind, aus diesem Tief herauszukommen? Eine „Erfolgsquote“ kann Frerick nicht nennen. Was ist schon Erfolg? „Für manche ist es bereits ein Fortschritt, wenn sie nicht noch mehr abdriften.“
Hädrich erzählt: „Der klassische Weg in Gladbeck nach einem Wohnungsverlust ist die Unterbringung an der Boye. Wir als Stadt mieten privat und bei großen Unternehmen Wohnungen an, die wir Betroffenen probeweise übergeben.“ Läuft alles glatt, entstehen aus diesen Mietverhältnissen reguläre: „Wenn’s nicht funktioniert, gibt’s keinen Mietvertrag.“ Frerick unterstreicht: „Wir achten darauf, dass unsere Leute ins Umfeld passen.“
Offene Türen bei der Caritas
Möglichst niederschwellig, darin sind sich die Fachleute in Gladbeck einig, sollte das Angebot für Wohnungs- und Obdachlose sein. Wie die Tagesstätte des Caritasverbands für sozialbenachteiligte Männer und Frauen an der Humboldtstraße in der Stadtmitte.
Sie können hier etwas essen, sich duschen und bei Bedarf auch Kleidung bekommen. Und vor allem: sich informieren lassen. Die Beratungsstelle unterstützt und begleitet, vermittelt und betreut Wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen. Die Tagesstätte ermöglicht den Betroffenen, unbürokratisch Kontakt zu den Kräften der Fachberatungsstelle aufzunehmen.
„Durchschnittlich besuchen uns 15 Menschen täglich“, berichtet Einrichtungsleiterin Annette Frerick. Überwiegend seien es Männer zwischen 30 und 40 Jahren. Diese Altersgruppe machte im Jahr 2022 einen Anteil von 29 Prozent aus, gefolgt von Jüngeren ab 20 Jahre (21,4 Prozent).
Manche Besucher gehen auch wegen der Kontakte untereinander hierhin. In der Tagesstätte, die vor mehr als 20 Jahren eröffnet wurde, können sich die Menschen austauschen, ihr Herz ausschütten, miteinander spielen oder einfach nur ein ruhiges Plätzchen zum Lesen finden.
Kontakt: Annette Frerick, Humboldtstraße 4, 0 20 43/68 17 35.
Die Wohnungsvermittlung gestalte sich heutzutage schwierig. Grund: Schufa-Eintragungen, also Informationen zum Zahlungsverhalten. Andres ist wichtig: „Man muss da genau hingucken. Wenn jemand mal ein Handy nicht bezahlt hat, ist das etwas anderes als bei offenen Mieten.“
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Andres stellt fest: „Wir werden wegen der Flüchtlinge immer mehr Menschen. Aber selbst wenn sich Bestand und Bevölkerung nicht veränderten, hätten wir Probleme“. Die Ansprüche an eine Wohnung seien gestiegen. Immer mehr Ein-Personen-Haushalte auf vergleichsweise großer Fläche engen das Angebot ein. Wo gebe es schon für Familien mit vier oder mehr Kindern bezahlbaren Wohnraum?, fragt Hädrich. Wo bleiben Rentner mit schmalem Geldbeutel? Die Konkurrenz nehme zu. Frerick: „Unsere Leute haben wenig Chancen auf dem Wohnungsmarkt.“ Doch die Expertin macht mit Blick auf die Hilfsangebote vor Ort Hoffnung: „Wenn jemand ein bisschen mitarbeitet, sind wir da. Wir sind in Gladbeck gut aufgestellt.“