Gladbeck. Ihnen droht Vernachlässigung, Verwahrlosung oder noch Schlimmeres. Deshalb leben rund 200 Gladbecker Kinder nicht bei ihren Eltern, sondern in Pflegefamilien oder im Kinderheim. Für eine Mittelstadt im Revier keine ungewöhnliche Zahl - aber dennoch eine beunruhigend hohe.

Vater, Mutter, Kind(er) = heile Familienwelt. Nein, so einfach ist das oft nicht. Schon gar nicht für rund 200 Gladbecker Kinder, für die das eigene Zuhause kein gutes ist. 120 leben deshalb in Pflegefamilien, 81 in einem Kinderheim. Ob das viele sind für eine Stadt wie Gladbeck? Agnes Stappert, die neue Jugendamtsleiterin, und das Team vom Pflegekinderdienst (Stefan Crumfinger, Astrid Polenz, Petra Praske) finden: ja. Aber die Zahlen sind auch durchaus typisch für eine Stadt im Revier in heutiger Zeit. In Haltern am See oder in Kirchhellen ist das anders, da ist die Kinderwelt wohl mehr in Ordnung.

Der Familienbericht der Stadt, veröffentlicht im letzten Jahr, hat das Team deshalb gar nicht überrascht. Vor allem nicht die Zahlen über die soziale Situation der Menschen in Stadtmitte. „Das kennen wir doch", sagt Agnes Stappert. Armut und Arbeitslosigkeit, viele unterschiedliche Nationalitäten, viele Familien, die auf engstem Raum wohnen – unter diesen Lebensbedingungen leiden vor allem die Kinder, wissen die Fachleute vom Jugendamt. Und die Schwierigkeiten nehmen zu. Stappert: „Die Zahlen der Kinder, die wir aus Familien 'rausholen, steigen." Besonders extrem war das in den Jahren 2007/2008 als Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung bundesweit Schlagzeilen machten. Da waren alle noch aufmerksamer, wollte kein Mitarbeiter eines Jugendamts einen fatalen Fehler machen. „Wir haben da natürlich auch genauer hingeguckt", sagen sie im Team.

Zahlen steigen weiter an

Jetzt ist es etwas ruhiger, aber die Zahlen steigen weiter. Denn das Elend der Kinder ist auch ein Gradmesser für die sozale Situation der Gesellschaft. Allein 25 Gladbecker Kinder wurden 2009 neu in einer Pflegefamilie untergebracht. Aber dass sie von einem Tag auf den anderen rausgeholt werden aus ihrer Familie, das passiert in den seltensten Fällen. Sondern oft erst dann, wenn ambulante Hilfen des Amts – von der Hilfe bei der Erziehung bis hin zur Haushaltsführung – erkennbar nichts nutzen. Dann wird gehandelt. „Die kleinen Kinder können sich nicht selber retten", fasst Stefan Crumfinger zusammen, warum das Amt Kinder möglichst früh bewahren will vor Vernachlässigung, Verwahrlosung oder noch Schlimmerem.

Das Heim ist auch dann oft die letzte Möglichkeit, die Kinder anderswo unterzubringen. Agnes Stappert: „Für jüngere Kinder bis zu sechs Jahren versuchen wir immer Pflegefamilien zu finden. Bei Kindern unter drei Jahren gelingt das auch zu 95 Prozent." Das sei wichtig, weil das Leben in einer Pflegefamilie für die emotionale Situation des Kindes immer besser ist als eine Betreuung im Heim.

Nicht jedes Kind passt in jede Familie

Rund 110 Pflegefamilien gibt es in Gladbeck zurzeit, einige betreuen zwei oder mehr Kinder. „Wir brauchen aber noch mehr Familien, die dazu bereit sind", sagt Agnes Stappert. Denn die Rechnung 1 Kind = 1 Pflegefamilie geht so nicht auf. Kind und Familie müssen zueinander passen. Manchmal wird deshalb lange gesucht, bis beide Seiten wissen: Das geht. Dass das behutsame Auswählen Sinn macht, beweisen die Abbruchquoten: Sie sind extrem niedrig. Was auch an der Schulung und dauerhaften fachlichen Begleitung während der Pflegezeit liegen mag. Die Familien wissen, was es heißt, ein Kind, das einige „Päckchen" aus seinem vorherigen Leben mitbringt, aufzunehmen.

Dennoch: Das schnelle Handeln in Akutsituationen gibt es auch. Und für solche Fälle vier Gladbecker Familien, die Bereitschaftspflege bieten, also ein Kind im Notfall für eine kurze Zeit, maximal drei bis sechs Monate, aufnehmen. In dieser Zeit wird dann über die weitere Zukunft des Kindes entschieden, oft braucht es ein Gutachten über die Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern und einen gerichtlichen Beschluss, um die Betreuungssituation zu regeln. „Manchmal", sagt Agnes Stappert, "hilft so eine Maßnahme auch, die Eltern wachzurütteln." Dann kann das Kind zurück in die eigene Familie.

Kinder im Blick

Noch besser als Wachrütteln ist Vorbeugen, wissen die Mitarbeiter des Pflegekinderdienstes. Und stellen erste positive Veränderungen durch die Maßnahmen im Bündnis für Familie fest. „Kinder im Blick", der Besuch jedes Gladbecker Neugeborenen, zum Beispiel reduziert offenbar Hemmschwellen. Nein, Zahlen gibt es dazu noch nicht, das wäre verfrüht. Aber „gefühlt bewirkt es etwas", sagt Amtsleiterin Stappert. „Wir können eine Erstberatung machen und müssen nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist." Durch die Besuche würden auch Schwellenängste abgebaut. Und scheinbare Kleinigkeiten haben durchaus große Wirkung: Über eine Mappe mit Informationen zu Kurs- und Beratungsangeboten für Eltern und Kinder, die nach dem Erstbesuch in der Familie bleibt, zeigten sich die Mütter begeistert. Für ihre Kinder ist das ein guter Start ins Leben!

Informationen

Weitere Informationen geben die Mitarbeiter/Innen des Pflegekinderdienstes, Astrid Polenz 99 23 16, Mail: Astrid.Polenz@stadt-gladbeck.de, Petra Praske 99 22 06 Mail: Petra.Praske@stadt-gladbeck.de