Gladbeck. Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt des Bistums Essen löst im K4 Betroffenheit aus. Taten werden beschrieben, ein Gladbecker erzählt.
„Wir schauen in einen Abgrund“, formulierte es am Montagabend ein sichtlich betroffener Markus Potthoff. Der Diplom-Theologe ist Leiter des Ressorts Kirchenentwicklung im Bischöflichen Generalvikariat des Bistums Essen. Seit knapp vier Wochen besuchen Verantwortliche des Bistums die zehn Dekanate des Ruhrgebiets, des märkischen Sauerlandes und des Ennepe-Ruhr-Kreises, um die Ergebnisse und Empfehlungen der unabhängigen sozialwissenschaftlichen „Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute“ vorzustellen und mit ihnen zu diskutieren. Gladbeck war die vorletzte Station.
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Rund 50 Menschen, darunter Kirchenmitglieder und beruflich Engagierte sowie Betroffene, waren der Einladung ins sozialpastorale Zentrum (K4) an der Kirchstraße gefolgt. Das Institut für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP) hat drei Jahre im Auftrag des Bistums geforscht, „um ein vertieftes Verständnis von Prozessen und Dynamiken, die sexualisierte Gewalt ermöglicht, deren Aufdeckung verhindert und deren Auswirkungen verschärft haben“, herauszuarbeiten, wie es in einer Stellungnahme des Bistums heißt.
Gladbecker erzählt von seinen persönlichen Erlebnissen als Opfer
Von „Seelenmord“, der durch den Missbrauch geschehe, sprach Markus Potthoff im Anschluss an die Begrüßung von Propst André Müller, der eine „gravierende Glaubwürdigkeitskrise“ in der katholischen Kirche konstatierte. Methodisch geht die IPP-Studie den Weg einer systemischen Analyse, um die strukturellen Hintergründe aufzuklären, die ursächlich sind für den Umgang der Kirche mit ihren Missbrauchsfällen.
Dazu wurden Akten, Protokolle, Briefe, Meldungen und Interviews herangezogen. Beispielhaft stellt die IPP-Studie sechs konkrete Missbrauchsfälle vor und untersucht sie entsprechend. Dabei, so Potthoff, sei ein Ziel gewesen, das Thema sexuelle Gewalt zu enttabuisieren und zu einer neuen Gesprächskultur zu finden. „Aber wir stehen erst am Anfang des Prozesses“, wiederholte der Referent ein ums andere Mal. Es reiche nicht aus, die Studie nach der Lektüre ins Regal zu stellen, wichtige Lerninhalte müssten folgen.
Er selbst verhehlte nicht, dass ihn die Studie „in beruflichen Bezügen sehr intensiv bewegt“ habe. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Sozialdynamiken in den Kirchengemeinden. Es habe dort bis ins Jahr 2010 „massive Versäumnisse, Vertuschungen und Fehleinschätzungen“ gegeben. Der Schutz der Institution „Kirche“ habe stets im Vordergrund gestanden, woraus ein täterorientiertes Vorgehen entstanden sei. Dies habe zu einer gravierenden Spaltung der Gemeinden geführt, wie ein Fall aus dem Ruhrgebiet prägnant aufzeige: Das Bistum Essen habe einen empörten Brief von einer größeren Gruppe von Gemeindemitgliedern mit der Frage erhalten, warum man ihren Pfarrer entfernt habe. Dem gegenüber stehe dann häufig eine kleine Gruppe, die sich um das Opfer scharrt, aber letztendlich keine Chance hat, gar geächtet wird.
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Das Informationsmanagement müsse unbedingt erneuert werden. Zwar bedeute das Jahr 2010 eine Zäsur mit Blick auf die Verstärkung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen, aber „wir haben bis heute keine konkreten Schutzkonzepte“, referierte Potthoff aus der Studie. Zwar sei mittlerweile ein hohes Engagement festzustellen, allerdings auch eine strukturelle Überforderung. Dieser Bereich müsse weiter professionalisiert werden, so das Fazit.
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Ein deutliches Urteil fällt die Forschungsgruppe der Studie: „Es gab auf den Leitungsebenen kein Verständnis über die lebenslange Auswirkung des Missbrauchs.“ Dafür stand an diesem Abend exemplarisch Markus Elstner aus Bottrop, der von sich sagt, er sei vom Opfer zum Betroffenen geworden, um die jetzigen Opfer zu unterstützen. Das Verhältnis zu seiner Kirche beschreibt er so: „Meinen Glauben hat mir der Priester genommen, als ich 13 war.“
Auch Siegfried Schmitz, Geschäftsführer der gemeinnützigen Jugendhilfe in Gladbeck, meldete sich zu Wort und berichtete von „körperlichem und seelischem Missbrauch“, die er als Kind im Franz-Sales-Haus erfahren habe. Seine Meldungen ans Bistum seien ignoriert worden, schließlich sei er mit 3000 Euro „Schweigegeld“ abgespeist worden, mit dem Hinweis, nun möge er endlich still sein. Markus Potthoff setzte einen nachdenklichen Punkt hinter diese Veranstaltung.
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Er zitierte Helga Dill, die leitende Autorin der Studie, die von „systemischen Faktoren und persönlichen Verantwortlichkeiten“ im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt spricht. Seine Schlussfolgerung: „Man hätte anders handeln können…“