Gladbeck. Die Zahl der Kirchenaustritte in Gladbeck erreichte 2022 einen neuen Höchstwert. Missbrauch und Vertuschung sind nicht die einzigen Erklärungen.

Immer mehr Gladbecker kehren der Kirche den Rücken und treten aus. Das legen die neuesten Zahlen des Amtsgerichts nahe. Demnach sind im vergangenen Jahr 780 Menschen vor Ort aus der katholischen oder der evangelischen Kirche ausgetreten. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 lag die Zahl der Kirchenaustritte in Gladbeck noch unter 500.

Damit zeigt sich in unserer Stadt dieselbe Tendenz wie in fast allen Städten. Doch warum treten die Menschen aus? Nach Gründen frage man nicht, sagt Bernd Wedig, Direktor des Gladbecker Amtsgerichts. Selbstverständlich könne man spekulieren, doch sicher könne man eben nicht sein.

Vielleicht spielen verstärkt auch wieder wirtschaftliche Gründe eine Rolle

Er liefert noch einen weiteren Grund, der sich aktuell verstärkt auswirken könnte. „Möglicherweise spielen heute auch wirtschaftliche Motive eine Rolle“, so Wedig mit Blick auf steigende Preise. Manch einer müsse sparen und entscheide sich vielleicht deswegen für den Kirchenaustritt. Immerhin ließe sich mit diesem Schritt auf einen Schlag einiges einsparen.

Bernd Wedig, Direktor des Amtsgerichts in Gladbeck.
Bernd Wedig, Direktor des Amtsgerichts in Gladbeck. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Zwei Beschäftigte bearbeiten bei Gericht die Kirchenaustritte. Anders als in anderen Städten gibt es hier noch keine langen Wartezeiten für einen Termin, um den Austritt zu erklären. Wedig: „Wir kriegen es verhältnismäßig kurzfristig hin.“ In der Regel sei noch für denselben Monat online ein Termin buchbar.

Lange Wartezeiten für den Kirchenaustritt bei Amtsgerichten in NRW

So schnell geht es längst nicht in allen NRW-Städten. Dort liegen die Wartezeiten teils bei bis zu drei Monaten, beim Amtsgericht Neuss sind es gar 3,5 Monate, so die Info, die NRW-Justizminister Benjamin Limbach zuletzt dem Rechtsausschuss des Landtags vorgelegt hat. In Duisburg und Essen etwa sind es drei Monate. Für Bottrop berichtet der dortige Amtsgerichtsdirektor, dass man bis März ausgebucht sei.

Dabei ist es wichtig zu wissen, dass der Kirchenaustritt persönlich erklärt werden muss – entweder im Amtsgericht oder vor einem Notar. Darauf weist auch Bernd Wedig ausdrücklich hin. Angebote aus dem Internet, wonach man den Austritt gegen Zahlung einer Summe online erklären könne, seien Betrug, warnt der Amtsgerichtsdirektor. Ja, auch der Kirchenaustritt sei nicht kostenlos, bei Gericht fallen Gebühren an. Derzeit würden rund 30 Euro fällig.

In Gladbeck leben wesentlich mehr Katholiken als Protestanten

Doch treten nun vermehrt Katholiken oder Protestanten aus? Das vermag Wedig nicht zu sagen. Das Amtsgericht erfasse die Konfession nicht. Die jeweiligen Zahlen stellen die Kirchen im Laufe des Jahres vor. Beim Bistum Essen rechnet man damit, dass die entsprechenden Infos frühestens zum Sommer hin zur Verfügung stehen, sagt Bistumssprecher Ulrich Lota.

Der Gladecker Propst André Müller in der Lamberti-Kirche.
Der Gladecker Propst André Müller in der Lamberti-Kirche. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Für Gladbeck darf man jedoch davon ausgehen, dass die katholische Kirche stärker betroffen ist – einfach, weil in der Stadt mehr Katholiken leben. Ganz aktuell hat die Stadt Gladbeck jetzt das statistische Jahrbuch für 2021 veröffentlicht. Demnach lebten 24.498 Katholiken und 16.415 Protestanten – Stand 31. Dezember 2021 – in der Stadt. 36.934 Gladbeckerinnen und Gladbecker gehörten keiner oder einer anderen Glaubensrichtung an.

Kirche erlebt massiven Vertrauensverlust, gleichzusetzen mit der Reformation

Propst André Müller zeigt sich von den vorliegenden Zahlen nicht überrascht. 2021 seien rund 300 Katholiken in Gladbeck ausgetreten, für 2022 rechnet er mit mehr als 400. Diese Zahlen stimmten ihn durchaus traurig. Er biete auch allen, die sich zu diesem Schritt entschließen, Gespräche an, die Resonanz darauf sei jedoch gleich Null. „Ich glaube auch, dass, wenn man sich zu diesem Schritt entschlossen hat, es nur ganz selten noch Gesprächsbedarf gibt. Meist ist der Austritt der Endpunkt einer längeren Entscheidungsfindung.“

Entsprechend wenig erfährt auch Müller zu den Gründen. Er ist selbstkritisch genug, um die Verfehlungen der Kirche zu erkennen. „Die Kirche mit ihren ethischen Werten steht da besonders im Fokus“, sagt er mit Blick auf Missbrauch und Vertuschungsversuche. „Wir erleben da einen massiven Vertrauensverlust, der ist gleichzusetzen mit der Reformation“, urteilt der Gladbecker Propst.

Kirche verliert wie andere Institutionen ihre Bindungskraft

Er verweist auf ein noch ausstehendes Gutachten im Bistum Essen zum Missbrauch in der katholischen Kirche. Der Inhalt sei noch nicht bekannt, doch Müller geht davon aus, dass es auch darin Fälle geben wird.

Daneben hat der studierte Sozialwissenschaftler aber noch einen weiteren, gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Gerade in liberalen Demokratien beobachte man derzeit eine gewaltige Institutionenkritik. Gewerkschaften, Parteien, aber auch Vereine verlören ihre Bindungskraft. Das treffe die Kirche als Institution an sich und die vielen kirchlichen Vereine im Umfeld. In der Sozialwissenschaft habe man diese Entwicklung schon lange vorhergesehen, sagt Müller, der aber sogleich erklärt, das Kirchendilemma so nicht relativieren zu wollen. Auch Kirchenschließungen und Abrisse vor Ort spielten sicher eine Rolle.

Am Ende gelte: „Die Gesellschaft wird der Kirche die Rolle zuweisen, die sie ihr zuweist.“

Ansehen der christlichen Kirchen ist gesunken

Auch die evangelische Kirche in Gladbeck wird immer kleiner. Zum einen sterben mehr evangelische Christen, als neu getauft werden, zum anderen machen auch ihr – wie der katholischen Kirchen – die Austritte zu schaffen, sagt Steffen Riesenberg, Superintendent des Kirchenkreises Gladbeck, Bottrop, Dorsten.

Steffen Riesenberg, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Gladbeck, Bottrop Dorsten.
Steffen Riesenberg, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Gladbeck, Bottrop Dorsten. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Zu den Gründen, aus denen Menschen der Kirche den Rücken kehren, kann Riesenberg zumeist nur spekulieren. Grundsätzlich sei das Ansehen der christlichen Kirche und der Religion gesunken – etwa durch die zahlreichen Missbrauchsskandale. Viele Menschen machten da keinen Unterschied, ob so ein Fall nun aus der evangelischen oder der katholischen Kirche komme, und so litten eben beide Konfessionen darunter, sagt Riesenberg.

Evangelisches Kirche in Gladbeck will diejenigen, die austreten, anschreiben

Über die tatsächlichen Beweggründe erfahre er nur ganz selten etwas, etwa wenn sich jemand sehr über den Pfarrer oder die Gemeinde vor Ort geärgert habe. „In solchen Fällen erhalte ich dann auch schon ‘mal eine Mail, wo mir jemand seine Gründe darlegt. Aber das kommt vielleicht drei- bis viermal im Jahr vor“, sagt der Superintendent.

Eine Zeit lang habe man in Gladbeck Fragebögen an diejenigen verschickt, die ausgetreten sind, erinnert sich Frank Großer, der Vorsitzende des Presbyteriums der evangelischen Gemeinde in Gladbeck. Das habe man jedoch aufgegeben, die Quote der Antworten sei letztlich gegen null gegangen. Derzeit werden gar keine Briefe an diejenigen verschickt, die ausgetreten sind, das liege an einer Systemumstellung, so Großer. „Perspektivisch wollen wir die Menschen wieder anschreiben und ihnen ein Gesprächsangebot machen.“

Evangelische Kirche will über neue Formate nachdenken

Er weiß selbstverständlich, dass viele Austritte mit Skandalen und kirchlichen Strukturen zusammenhängen. Doch glaubt er, dass das eben längst nicht in allen Fällen so ist. Es gebe auch deutlich profanere Gründe, so seine Theorie. Das könnten finanzielle ebenso sein wie gesamtgesellschaftliche Gründe sein.. In einer immer stärker individualisierten und säkularisierten Gesellschaft stehe Kirche bei vielen eben nicht mehr so im Fokus.

Steffen Riesenberg ist deshalb überzeugt, dass Kirche sich weiter verändern müsse, die Sonntagsmesse um 10 Uhr mit Orgelmusik spreche viele Menschen eben nicht mehr so an. Es werde sie weiterhin geben, dazu müsse man über neue Formen nachdenken – zum Beispiel Tauffeste. In Dorsten etwa habe die evangelische Kirche eine Taufe in der Lippe angeboten, da sei das Interesse sofort gestiegen.

Der Superintendent glaubt, dass sich noch viel mehr in solche Richtungen entwickeln werde, doch auch das werde die Menschen nicht in Scharen zur Kirche zurückbringen oder zu einem Wachstum führen, so seine realistische Einschätzung.