Gladbeck. Der Anteil der energieintensiven Unternehmen ist in der Emscher-Lippe-Region besonders hoch. Die Energiekrise bedroht Arbeitsplätze.
Die Lage der energieintensiven Industrie in der Emscher-Lippe-Region ist offensichtlich hoch dramatisch. Die Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen (IHK) schließt jedenfalls eine Pleitewelle und den Verlust Tausender Jobs nicht aus. „Die Energiekosten fressen die Gewinne des Vorjahres auf“, sagt Dr. Fritz Jaeckel. Der IHK-Hauptgeschäftsführer stellte ein Zehn-Punkte-Sofortprogramm vor, um die ökonomische Basis im Kammerbezirk Nord Westfalen zu erhalten. Und er erläuterte, welche Rolle das sogenannte „Gelsenkirchener Modell“ mit Gladbecker Beteiligung spielen könnte.
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Die Lagebewertung klingt dramatisch. Zahlreiche Unternehmen im Münsterland und in der Emscher-Lippe-Region fürchteten um ihre Existenz und verfolgten „mit brennender Sorge und hoher Anspannung“ die Entwicklung auf dem Energiemarkt. Für Fritz Jaeckel steht die wirtschaftliche Stärke der Region auf dem Spiel. Gemeinsam mit allen IHKs in Deutschland fordert Jaeckel die Bundesregierung auf, alle verfügbaren Kraftwerke wieder ans Netz zu bringen oder am Netz zu lassen, solange es die Mangellage erfordere. „Wir müssen das Energieangebot schnell und spürbar erhöhen, um den Anstieg der Preise zu drosseln.“
Dramatischer Energiekostenanstieg für Lebensmittelbetrieb auf acht Millionen Euro
Der IHK-Chef nennt das Beispiel eines regionalen Betriebes aus der Lebensmittelbranche. Der hatte bislang Energiekosten von 800.000 Euro jährlich. Jetzt liege dem Unternehmen ein Angebot für acht Millionen Euro vor. „Die Unternehmen versuchen, über diesen Winter zu kommen“, so Jaeckel. Der nächste könnte dann allerdings ganz bitter werden. Eine sofortige Entlastung für Unternehmen sei zwingend erforderlich, „wenn wir den Kern der nord-westfälischen Wirtschaft erhalten wollen“. Niemand fordere die Rückkehr zur Kernenergie, verdeutlicht der IHK Hauptgeschäftsführer, es gehe allein darum, „die Situation für die Jahre 2022, ‘23 und ‘24 beherrschbar zu halten“.
Die IHK hat in ihrem Bezirk, zu dem auch der Kreis Recklinghausen gehört, rund 500 von 1571 Industriebetrieben als energieintensiv ermittelt; darunter über 100 Hersteller von Glas, Keramik und Zement sowie fast 100 metallverarbeitende Betriebe – und natürlich die Chemie mit ihren großen Standorten in Marl und Gelsenkirchen-Scholven. Diese Betriebe zusammen stehen nach IHK-Angaben für 50.000 Arbeitsplätze in der Emscher-Lippe-Region und im Münsterland. Davon entfielen allein 20.000 auf die chemische Industrie, in Gladbeck zum Beispiel bei Ineos Phenol. Energieintensiv ist in der Stadt auch die Produktion von Flachglas-Hersteller Pilkington. Der Anteil der energieintensiven Industrie von gut fünf Prozent an der Gesamtbeschäftigung sei ein Beleg für die regionale Konzentration in Nord Westfalen, sagt Jaeckel. Bundesweit liege der Anteil lediglich bei etwa 3,4 Prozent.
Strompreise für die regionale Industrie sind zehn Mal so hoch wie in Frankreich
Aktuell steigt nach Erkenntnissen der IHK die Zahl der Unternehmen, die entweder gar keine oder nur noch Lieferverträge zu Extrempreisen erhalten. Neben der zeitweiligen oder dauerhaften Stilllegung von Betriebsteilen planten immer mehr Unternehmen auch die Verlagerung der Produktion ins Ausland, berichtet der IHK-Hauptgeschäftsführer, der auf die „rapide sinkende Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen“ verweist. Die Strompreise am Terminmarkt hätten sich mittlerweile verzehnfacht. Damit seien die deutschen Strompreise aktuell für die Industrie zehn Mal so hoch wie im benachbarten Frankreich und die Gaspreise mehr als zehn Mal so hoch wie in den USA.
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Die IHKs in Deutschland fordern vor diesem Hintergrund, einen Zuschuss zu den Netzentgelten, die Aussetzung der CO-2-Bepreisung bis Ende 2024 und die Option für die Betriebe, nicht verbrauchte Gas- und Stromkontingente an den Markt zurückzugeben. Weitere Punkte betreffen die „Entbürokratisierung beim Ausbau erneuerbarer Energien“ und die Vermeidung anfallender Zusatzkosten wie „die neu eingeführte Gasbeschaffungsumlage und andere schon länger bestehende Stromumlagen“. Sie sollten allesamt aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.
Der Städtetag empfiehlt „Gelsenkirchener Modell“ mit Gladbecker Beteiligung
Unterdessen haben sich 40 energieintensive Unternehmen aus Gelsenkirchen, Bottrop und Gladbeck mit der für diese Städte zuständigen ELE Verteilnetz GmbH zusammengesetzt, um einen Plan für den Fall einer Gasknappheit zu entwickeln und möglichen Abschaltungen vorzubeugen. In diesem sogenannten „Gelsenkirchener Modell“ mit Gladbecker Beteiligung, das der Deutsche Städtetag allen Kommunen zur Nachahmung empfiehlt, haben sich die Unternehmen auf drei Ansatzpunkte verständigt: 1. Energieeinsparungen. 2. Substitution, also den Einsatz alternativer Energieträger zu Erdgas. 3. Freiwillige Beiträge durch befristete Senkung der Produktion und damit des Gasverbrauchs. Verbräuche könnten zum Beispiel reduziert werden, indem energieintensive Unternehmen in der Region untereinander frühzeitig Revisionen, Instandhaltungsmaßnahmen oder gar Betriebsurlaube absprechen. Stand heute werden die 40 Unternehmen in der Lage sein, ihren Energieverbrauch von 63 Megawatt auf unter 50 Megawatt zu drücken, berichtet Dr. Jochen Grütters, Leiter des IHK-Standorts Emscher-Lippe.