Gladbeck. Begrenzte medizinische Ressourcen bei immer mehr Corona-Fällen: Was bedeutet Triage? Gerade behinderte Menschen in Gladbeck sorgen sich.
Die Corona-Infektionszahlen steigen unablässig. Das medizinische Personal in den Krankenhäusern arbeitet an der Belastungsgrenze. Vielerorts fehlt es an Kräften und Beatmungsgeräten. Der Begriff Triage, der vor Ausbruch der Pandemie fast nur Fachleuten etwas sagte, ist in die breite Öffentlichkeit gedrungen. Die Überlegung, wer angesichts begrenzter Ressourcen überhaupt noch behandelt wird, bereitet in Gladbeck gerade Menschen mit Behinderung Sorgen. Werden sie aufgrund ihrer Krankheitssituation im Ernstfall zugunsten Gesünderer benachteiligt?
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Davor fürchtet sich Volker Jaenisch. Der 61-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren Bewohner der „Jungen Pflege“ im Vinzenzheim. Er sagt: „Ich habe seit 20 Jahren Parkinson, zwei Bandscheiben-Vorfälle und noch mehr.“ Er habe schon Angst, dass seine Erkrankungen zu einer negativen Entscheidung im Falle einer Triage führen könnten. „Ich habe bisher keine Corona-Infektion gehabt“, sagt er.
„Es gibt bestimmt auch viele Menschen, die Gedanken an Triage verdrängen“
25 Plätze hat die „Junge Pflege“: „Da sind auch einige unter uns dabei, die das Problem verdrängen. Und es gibt bestimmt auch viele Menschen, die Gedanken an Triage verdrängen.“
Josi Marten, Vorsitzende des Gladbecker Behindertenbeirats, sagt: „Ich kann mir die Ängste von Betroffenen vorstellen. Das Problem ist nicht nur, dass aussortiert werden soll. Viele sorgen sich auch, dass Operationen verschoben werden.“ Sie ist froh, „wenn der Gesetzgeber vorgibt, dass Behinderte gleich behandelt werden sollen.“
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Jaenisch „setzt sehr viel darauf“, dass behinderte Menschen im Ernstfall wie andere auch betrachtet werden. Schließlich hätten die Betroffenen ja schon genug mit Problemen zu kämpfen. Joachim Georg, Leiter des Vinzenzheimes, stellt es sich für „einen Arzt schlimm“ vor, eine Auswahl treffen zu müssen: „Das ist eine schwere ethische Entscheidung.“ Dabei sollte es jedoch „egal sein, ob jemand jung oder alt, behindert oder gesund – was immer man darunter verstehen mag – ist“.
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Damit spricht Joachim Georg Punkte an, die Hannelore Eisenberg beschäftigen. Die 71-Jährige, die auf einen Rollstuhl angewiesen ist, sorgt sich, dass sie wegen ihres Alters und ihrer Behinderung im Falle einer Triage benachteiligt werden könnte. Sie gehöre zu den Menschen, „die hohe Kosten verursachen“. Die Seniorin: „Ich habe Angst, mit Behinderung als minderwertig wahrgenommen zu werden.“
Triage stellt für Rettungskräfte kein neues Thema dar
Was ist ein Leben wert? Was ist richtig, was falsch? Diese Frage müssen Rettungskräfte in ihrem Arbeitsalltag immer wieder beantworten. Denn: Das Triagieren, also die Selektion bei Schadensereignissen mit vielen Verletzten, ist keine Erfindung in der Corona-Zeit. Der Begriff rührt aus der Militärmedizin. Kernfrage: Wie sind knapp personelle und materielle Ressourcen bei einem Massenanfall von Verletzten aufzuteilen?
Gesetzgeber ist gefordert
Neun Menschen mit Behinderung hatten geklagt, weil sie sich durch die „Klinisch-ethischen Empfehlungen“ diskriminiert sahen. Diese legen im Falle einer Triage fest, welche Punkte über medizinische Behandlung ja oder nein entscheiden. Zu den Kriterien gehören unter anderem Erfolgsaussichten und Patientenwille.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Gesetzgeber „unverzüglich“ Vorkehrungen für eine Triage schaffen muss. Menschen mit Behinderungen dürften bei einer Knappheit der Ressourcen in den Krankenhäusern nicht benachteiligt werden.
Vor diesem Dilemma stehen Fachleute auch heutzutage. Beispielsweise im Falle eines Verkehrsunfalls mit etlichen Verletzten bei begrenztem Einsatzpersonal, wie Georg Fragemann, Leiter des Sachgebiets Rettungsdienst bei der Feuerwehr Gladbeck, als Beispiel anführt. Er erklärt: „Wir haben einen Sichtungskatalog. Die Kategorie rot besagt, dass jemand vital stark gefährdet ist. Kategorie gelb bedeutet: Wenn wir nicht reagieren, kann der Zustand ins Rote gehen. Grün heißt: Jemand ist nicht unmittelbar gefährdet.“
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Die Entscheidung werde beeinflusst von der Antwort auf die Frage: Wer hat die größeren Überlebenschancen? Allerdings, so der Feuerwehr-Experte, gehe es im Rettungsalltag um akute Verletzungen, nicht um eine Lungenkrankheit infolge einer Corona-Infektion. Dafür sollte gelten: „Man muss einmal alles durchleuchten. Es muss keine Sekunden-Entscheidung sein, wie für uns auf der Straße, wo wir auf uns allein gestellt sind. Mehrere Ärzte sollen bewerten.“
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Fragemann betont: „Eine Behinderung darf nicht in die Waagschale geworfen werden. Die Betroffenen erfreuen sich genauso ihres Lebens wie ihre Mitmenschen.“ Das Alter dürfe ebenfalls nicht in die Einscheidung einfließen. Am Herzen liegt Georg Fragemann, dass „der Arzt und die Ärztin, wie wir, Rechtssicherheit bekommen“ – eben durch gesetzliche Vorhaben.
Stefan Walter, Kreisgeschäftsführer des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Gladbeck, stimmt zu: „Angehörige fragen: ,Warum wurde er oder sie nicht behandelt?’.“ In der rettungsdienstlichen Ausbildung beim DRK werden Einsatzkräfte auf Triage vorbereitet: „Da haben wir zum Beispiel einen Busunfall auf der Autobahn mit 40 Verletzten: Es muss eine Sichtung erfolgen, es wird priorisiert.“ Mit Blick auf die Corona-Lage könne er verstehen, „dass Behinderte große Sorgen haben“.
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Stefan Walter: „Was uns freut in der aktuellen Diskussion ist, dass das Thema aufgenommen wird. Es müssen Regularien aufgestellt werden, um Rechtssicherheit zu schaffen.“