Gladbeck. Körperkontakt und Besuch auf den Zimmern: Träger von Seniorenheimen in Gladbeck kritisieren die Corona-Lockerungen. Das sind ihre Argumente.
Mechtild Eckholt hat es spät abends im Radio gehört – und war entsetzt. Die Leiterin der Senioreneinrichtung Eduard-Michelis-Haus kann nicht nachvollziehen, dass in den Seniorenheimen in NRW ab sofort wieder Körperkontakt möglich ist, und ab dem 1. Juli Besucher auch wieder in die Zimmer der Bewohner dürfen.
Besucher können ihre Angehörigen in eigens hergerichteten Räumen treffen
Selbstverständlich sehnten sich auch oder besonders alte Menschen in Heimen nach sozialen Kontakten, aber: „Die Bewohner unseres Hauses haben alle Einschränkungen, die es seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie gab, solidarisch mitgetragen und nicht unter Vereinsamung gelitten. Als zum Muttertag die ersten Besucher wieder kommen durften, von heute auf morgen quasi, war selbst unser Bewohnerbeirat skeptisch.“ Seit dieser ersten Lockerung können Besucher ihre Angehörigen in eigens hergerichteten Räumen treffen, durch eine Plexiglasscheibe voneinander getrennt. Und wer sein Bett nicht mehr verlassen kann, darf trotzdem Besuch empfangen. Dafür gibt es eine transportable große Plexiglasscheibe.
Bei ihrer Kritik an den jetzt beschlossenen Lockerungen hat Mechtild Eckholt vor allem die im Haus Beschäftigen im Blick: „Die Mitarbeiter werden nicht gesehen. Wir alle haben in den vergangenen Monaten bis ans Limit und darüber hinaus gearbeitet, schieben einen Berg von Überstunden vor uns her, haben unsere sozialen Kontakte auf ein Minimum beschränkt, um keine Infektionen ins Haus zu tragen.“
„So kann Politik nicht mit Pflegekräften umgehen“
Trotzdem ist es passiert: Bei einer Mitarbeiterin wurde Pfingsten eine Covid-19-Infektion bestätigt, 29 Bewohner und 20 Mitarbeiter mussten in Quarantäne – mit der entsprechenden Mehrbelastung für das verbliebene Team. Eckholt: „Das war noch einmal ein Kraftakt, den alle mitgetragen haben.“
Jetzt seien alle in großer Sorge, dass es wegen der neuen Lockerungen auch neue Infektionen geben könnte. Mechtild Eckholt: „Und wer muss es dann richten, wenn es eine zweite Welle gibt? So kann Politik nicht mit Pflegekräften umgehen. Da muss man sogar fragen, ob Arbeitsschutz gar nicht mehr zählt.“
„Unverantwortlich und skandalös“ findet Caritasvorstand Rainer Knubben die jüngsten Entscheidungen aus Düsseldorf. Der Caritasverband Gladbeck ist Träger der Senioreneinrichtungen Johannes-van-Acken- und St. Altfrid-Haus. „Wer sagt, entweder sterben Menschen in Seniorenheimen am Coronavirus oder an Einsamkeit, der hat keine Ahnung.“
Die Senioren sind nicht isoliert, sagen die Heimträger
Genau so sieht das Kerstin Schönlau, Geschäftsbereichsleiterin Seniorenhilfe beim Diakonischen Werk, das in Gladbeck das Martha- und das Vinzenzheim betreibt: „Unsere Bewohner sind nicht isoliert, fühlen sich in den Kleingruppen gut aufgehoben und können doch auch jetzt, unter Beachtung der Auflagen, Besuch empfangen. Was sollen diese neuen Lockerungen?“
Auch Rainer Knubben und Kerstin Schönlau sehen die Mitarbeiter in ihren Einrichtungen am Ende ihrer Kräfte. „Sie sind schon jetzt überfordert. Jeden Besucher müssen sie nach Krankheitssymptomen und möglichen Kontakten zu Infizierten befragen, die Einhaltung der Schutzmaßnahmen kontrollieren. Und jetzt sollen sie auch noch bei jedem Fieber messen. Und das alles neben ihren eigentlichen Aufgaben. Das ist nicht zu leisten“, kritisiert Knubben.
Ruhrgebietskonferenz Pflege
Caritasverband und Diakonisches Werk setzen ihre Hoffnung auf die Ruhrgebietskonferenz Pflege, die Dienstagnachmittag per Telefonschalte über die neuen Regelungen berät. Die Fachleute vieler Träger von stationären Einrichtungen und ambulanten Diensten haben dazu auch einen Mitarbeiter aus dem NRW-Gesundheitsministerium eingeladen. Kerstin Schönlau: „Wir starten eine Arbeitgeberkampagne und hoffen, dass unsere Argumente in Düsseldorf überzeugen.“
Die WAZ-Redaktion hat auch beim Unternehmen Cura um eine Stellungnahme zu den neuen Lockerungen gebeten. Sein Seniorenheim an der Kolpingstraße war mit vielen Infizierten und etwa zehn Toten gravierend von der Pandemie betroffen. Bei der Zentrale in Berlin sah man sich allerdings außer Stande, unsere Fragen innerhalb eines Tages zu beantworten.
„Wir beobachten jetzt schon, dass nicht alle Besucher die Vorschriften beachten. Wie sollen wir denn kontrollieren, ob bei Körperkontakt die Maskenpflicht befolgt oder bei Besuchen in den Zimmern der Abstand eingehalten wird?“, fragt sich Kerstin Schönlau. „Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Es geht um Menschenleben.“
Die beiden Fachleute erwarten jetzt von der Heimaufsicht, dem Kreis Recklinghausen, dass er im Gespräch mit den Trägern der Senioreneinrichtungen klärt, wie die neuen Lockerungen in der Praxis umgesetzt werden können und sollen. Denn: „Man lässt uns im Regen stehen. Die Verantwortung, wenn es neue Infektionen gibt, nimmt uns keiner ab.“