Gladbeck. Rita Jensen hat ihren letzten Arbeitstag lange hinausgezögert. In 32 Jahren wurden von ihr tausende Angeklagte verurteilt oder freigesprochen.

Viele können ihren letzten Arbeitstag gar nicht erwarten, Rita Jensen würde ihn gern hinauszögern. Die Richterin am Amtsgericht hat schon eineinhalb Jahre über das Pensionsalter hinaus gearbeitet – mehr lässt das Gesetz nicht zu. Mit dann 67 Jahren geht Rita Jensen Ende Februar in den Ruhestand.

Vergangenen Mittwoch hat sie „ihren“ letzten Straftäter verurteilt, zu vier Monaten Haft auf Bewährung wegen gewerbsmäßigen Betruges. Jetzt ist sie noch in ein paar Betreuungsangelegenheiten unterwegs. Dann war’s das nach fast 40 Berufsjahren. Ach ja, der noch immer gut gefüllte Schreibtisch in ihrem Büro muss auch noch aufgeräumt werden. „Das mache ich dann im noch verbliebenen Resturlaub.“ – Wieder ein paar Tage gewonnen. Noch ein paar Tage mit den Kollegen, „die ich am meisten vermissen werde“.

Schon als Kind Interesse an der Justiz gehabt

Rita Jensen stammt aus Hohenlimburg, heute ein Stadtteil von Hagen, und

Mehr Zeit für die persönlichen Hobbys

Künftig hat Rita Jensen mehr Zeit für ihre Hobbys: Sie ist seit vielen Jahren schon leidenschaftliche Reiterin mit eigenem Pferd.

2006 hat sie sich einen langgehegten Wunsch erfüllt und den Jagdschein gemacht. Ihren ersten Rehbock hat sie schon erlegt.

lebt in Kamp-Lintfort. Schon als Kind sei ihr Interesse an der Justiz geweckt worden – vom grausamen Doppelmord an zwei Kindern in ihrem Heimatstädtchen, von der „schwarzen Hand“ auf Schloss Hohenlimburg („Die mumifizierte Hand war wahrscheinlich vor ein paar hundert Jahren Gegenstand eines Mordprozesses.“) und vom großen steinernen Femetisch im Schloss („Ich wollte als Kind unbedingt wissen, was es damit auf sich hat.“). Während der Schulzeit habe sie auch mit anderen Berufen geliebäugelt, „mich dann aber doch für ein Jurastudium entschieden.“

Als Referendarin habe ihr die Zeit im Gericht am besten gefallen. Also nicht Staats- oder Rechtsanwältin, sondern Richterin. Warum? „Wir sind an Gesetze gebunden, aber wir haben Entscheidungsfreiheit“, sagt Rita Jensen. „Die Unabhängigkeit ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil.“

Die Unabhängigkeit ist ein Vorteil

Als Assessorin arbeitete sie an den Landgerichten in Münster und in Essen, am Amtsgericht Schwelm und erstmals in Gladbeck. Hierher kehrte sie nach ihrer ersten Planstelle als Richterin in Marl zurück. 1987 war das. 32 Jahre hat sie am Amtsgericht am Jovyplatz in Zivil- und Strafprozessen Recht gesprochen, sich um Familiensachen und – was ihr besonders am Herzen liegt – Betreuungssachen gekümmert. „Diese Rechtsmaterie interessiert mich ganz besonders, und außerdem ist man bei Betreuungsangelegenheiten auch mit Problemen konfrontiert, die nicht primär juristischer Art sind.“

Tausende Angeklagte hat Rita Jensen in ihrer Zeit am Amtsgericht Gladbeck freigesprochen oder verurteilt. Einige Sexualstraftaten und tragische Unglücksfälle, nach denen sich Angeklagte wegen fahrlässiger Tötung verantworten mussten, haben sich bei ihr eingebrannt. „Es gab so schwerwiegende Sachen, die mich auch nachts nicht losgelassen haben.“ Gegrübelt habe sie auch nach manchem Freispruch, räumt die Richterin ein. „Aber wenn die Beweislage zu dünn ist, geht es eben nicht anders. Dann habe ich vor allem mit den Opfern gelitten.“

Opfer, Täter und Zeugen gleichermaßen im Blick

Opfer, Täter und Zeugen hat sie gleichermaßen im Blick, wenn sie zum Abschied quasi einen Appell an ihre Kollegen hinterlässt: „Termine, vor allem in Strafsachen, sollten innerhalb von drei Monaten vom Tisch sein. Mir ist im Laufe der Berufsjahre klar geworden, wie hoch für alle Beteiligten die Belastung ist, wenn sie auf die Verhandlung warten.“

Rita Jensen hat ihren Talar – den zweiten erst in ihren vielen Jahren als Richterin – zum letzten Mal an- und ausgezogen. „Eigentlich sollte mein erster bis zuletzt durchhalten. Aber der war so durchgescheuert und eingerissen, dass er nicht mehr zu reparieren war.“ Der zweite sieht aus wie neu, hätte sicher – so wie seine Trägerin – noch ein paar Jahre durchgehalten.