Gladbeck. . Seit 50 Jahren ist Alkoholismus als Krankheit anerkannt. Die Wege in die Sucht sind verschieden. Vier Betroffene erzählen.

Als Norbert das erste Mal trank, war er 14 Jahre alt. „Es schmeckte mir überhaupt nicht. Aber ich trank gleich vier Flaschen Bier.“ Zu seinem ersten Rendezvous nahm er als 17-Jähriger zwei Flaschen Wodka mit – und war sturzbetrunken. „Als ich wieder nüchtern war, habe ich mich gewundert, warum sich die Frau nicht mehr bei mir meldet.“ Bis zum Umfallen trank er. Immer wieder.

Norberts spätere Frau litt enorm unter der Sucht ihres Mannes. „Es ist ein erbärmliches Leben an der Seite eines Alkoholikers“, sagt der heute 69-Jährige. Er konnte nicht anders, als sich immer einen Weg zum Alkohol zu suchen. Wenn er mit seiner Tochter einen Ausflug machte, ging es stets zu einer Trinkhalle. „Ich habe einen Schnaps getrunken, meine Tochter bekam einen Kirsch-Lolli.“

Oft wollte Norberts Frau ihn verlassen

Oft hatte seine Frau angekündigt, ihn zu verlassen. „Ich habe das nie ernst genommen. So wie ich nichts ernst genommen habe außer meine Flasche Schnaps.“ Eines Morgens machte seine Frau ernst – und verließ ihn. „Alkohol ist ein Lösemittel. Es löst Arbeitsverhältnisse und Ehen auf, am Ende einen selbst“, sagt Norbert.

Für Norbert war dies der Tiefpunkt. Er schloss sich den Anonymen Alkoholikern an, wollte endlich mit dem Trinken aufhören. Der WAZ erzählen er und drei weitere Betroffene von ihrer Sucht, die vor 50 Jahren offiziell als Krankheit anerkannt wurde. Eines haben die vier gemeinsam: Sie haben den Absprung geschaffte und sind heute trocken.

Peter trank zum ersten Mal mit 15

800 Mark hat Peter Monat für Monat vertrunken. „Das habe ich einmal ausgerechnet.“ Ausgerechnet hat er auch: Einen Tankwagen Bier wird er insgesamt leer getrunken haben. „25 000 Liter sind da schon zusammengekommen.“ 15 war er, als er das erste Mal in einem Urlaub so richtig betrunken war. „Von da an habe ich den Alkohol als Krücke genutzt.“

Anonyme Alkoholiker treffen sich wöchentlich

Zur Gladbecker Selbsthilfegruppe zählen im Moment sieben Mitglieder. Die Anonymen Alkoholiker orientieren sich an einem „12-Schritte-Programm“ und bestärken sich und andere in Gesprächen mit dem Ziel, abstinent zu bleiben.

Die Mitglieder sprechen sich nur mit Vornamen an und bleiben auch in unserem Artikel anonym.

„Beruf, Gehalt ... das alles ist unwichtig. Jeder kann bei unserem Treffen reden, worüber er möchte“, sagt Peter. Das Gesprochene bleibt im Raum.

Einzige Voraussetzung, an den Treffen teilzunehmen ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.

Die Anonymen Alkoholiker treffen sich jeden Freitag. Sonntags gibt es gemeinsame Treffen mit Angehörigen. Betroffene, die Interesse an der Gruppe haben, können sich bei Günter unter 3 64 74 oder bei Peter unter 3 51 05 melden.

Zu schüchtern war der junge Mann, um Frauen in der Disco anzusprechen. Betrunken ging das viel leichter. „Aber für jede Tat braucht man immer einen Schluck mehr.“ Betrunken war Peter auch, als er seine Frau kennenlernte. „Sie war aber trotzdem der Meinung, dass ich ein Töffter bin. Damit hatte sie Recht“, sagt der 72-Jährige und schmunzelt. Seine Frau dachte aber auch, dass sie ihm das Trinken schon abgewöhnen könne. Doch das schaffte sie nicht.

Im Gegenteil: Es ging immer weiter bergab. „Ich habe gelogen, dass sich die Balken biegen. Es war eine scheiß Zeit.“ Auch körperlich setzte ihm der Alkohol zu. Manchmal zitterte er so stark am ganzen Körper, dass die Toiletten-Schüssel wackelte, auf der er gerade saß. „Ich bekam furchtbare Angst zu sterben.“ Das war – so vermutet Peter heute – Anlass für ihn, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Das tut er auch heute noch. „Ich würde sonst peu à peu in alte Verhaltensmuster zurückfallen und da will ich auf keinen Fall hin.“

Die Familie litt unter der Sucht

Auch Günters Frau hat oft geweint, ihren Mann gebeten, mit dem Trinken aufzuhören. „Ich kann so nicht mehr mit dir leben“, sagte sie oft. Doch Günter konnte ohne den Schnaps nicht leben. Bier hatte er schon lange stehen gelassen. „Ich habe zwar beruflich noch alles geregelt bekommen, aber es hing an einem seidenen Faden.“

Auch die Familie litt unter seiner Krankheit. Mit starkem Schwindel ging seine Frau Elisabeth eines Tages zum Arzt. Der vermutete gleich eine psychische Belastung. „Ist bei Ihnen Zuhause alles in Ordnung?“, fragte der Arzt. Elisabeth bejahte. „So sehr verdrängt man die Krankheit. Bei uns Zuhause war nämlich gar nichts in Ordnung“, sagt Günter (78).

Eine Freundin sprach Marion auf ihre Sucht an

Warum Marion überhaupt getrunken hat, das weiß sie bis heute nicht. „In meiner Jugend fing es an, mit den Jahren bin ich abhängig geworden.“ Als eine Freundin sie ansprach, ihr sagte, dass sie zu viel trinkt, wollte sie sich das erst gar nicht eingestehen. Doch schließlich gab sie ihrer Freundin recht, ging auch sie zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker. „Was ich da gesehen und gehört habe, das wollte ich nicht erleben.“ Seit 26 Jahren ist sie nun trocken. „Das war meine Lebensrettung, ich wäre sonst kaputt gegangen.“

Marion, Peter, Norbert und Günter, sie alle erlebten in den Treffen der Anonymen Alkoholiker das selbe: Sie erfuhren, dass sie nicht die einzigen mit dieser Krankheit sind. „Jeder hat von sich gesprochen und jeder hat damit von mir gesprochen.“

>> WER NICHT TRINKT, MUSS SICH OFT RECHTFERTIGEN

So gehen die Betroffenen in der Öffentlichkeit mit ihrer Krankheit um

Das Glas Sekt zum Anstoßen auf den runden Geburtstag, der Rotwein am Abend oder das Bier beim Fußballspiel mit den Kumpels: Alkohol ist allgegenwärtig und gehört in unserer Gesellschaft für die meisten einfach dazu. Wer keinen Schluck trinken möchte, muss sich oftmals erklären. Alkoholkranke kommen dann in Erklärungsnot.

„Meine Familie und meine Bekannten wissen Bescheid“, sagt Marion und weicht auf Wasser oder Kaffee aus. „Mir ist aber noch nie einer blöd gekommen.“ Längst nicht jedem möchte sie gleich von ihrer Krankheit erzählen. „Ich sage dann oft, dass ich keinen Alkohol vertrage.“

„Das tun wir ja auch nicht“, pflichtet Norbert ihr bei, der auch häufig dieses Argument vorbringt. Oft würden sich seine Befürchtungen, in Erklärungsnot zu geraten, jedoch nicht erfüllen. „Manchmal mache ich mich schon vorher verrückt, nehme auf einem Geburtstag dann ein Glas Orangensaft statt Sekt und niemand fragt nach.“ Günter hat mit den Jahren ein Gefühl entwickelt, wann er eine ehrliche Antwort auf die Frage geben kann, warum er keinen Alkohol trinkt und wann er lieber nicht davon erzählen möchte. Bei seiner Familie und an seinem Arbeitsplatz hatte er sich früh zu seiner Alkoholsucht bekannt.

Mit Alkohol nicht mehr in Berührung kommen

Peter geht heute offen mit seiner Krankheit um. Und achtet ganz genau darauf, dass er nicht mit Alkohol in Berührung kommt. Flambierte Speisen, Soßen mit Bier oder Wein, Pralinen mit Schnaps – das alles kommt für Peter nicht mehr in Frage. „Wenn ich etwa in ein Restaurant gehe, achte ich darauf, dass kein Alkohol im Essen ist.“ Davon werde zwar niemand betrunken aber es sei ein „Ja“ zum Alkohol. „Ich dulde ihn nicht mehr in meinem Körper“, sagt er entschieden.

Peter kann gut damit umgehen, wenn in seinem Umfeld getrunken wird. „Ich habe mich dazu entschieden, dass es meine Krankheit ist und nicht die meiner Familie.“